02 - Keiner werfe den ersten Stein
blätterte unkonzentriert in einigen Illustrierten, St. James hob den Deckel der Teekanne auf dem vergessenen Morgentablett und betrachtete den dünnen grauen Film, der sich auf der Flüssigkeit gebildet hatte, und Macaskin klopfte mit einem Kugelschreiber im Staccato an seine Schuhsohle.
»Zwei Zeitperioden«, sagte St. James. »Zwanzig Minuten oder mehr zwischen der Auffindung der Toten und dem Anruf bei der Polizei. Dann nahezu zwei Stunden zwischen dem Anruf bei der Polizei und ihrem Eintreffen hier.« Er sah Macaskin an. »Und die Leute der Spurensicherung kamen offensichtlich nicht dazu, das Zimmer gründlich zu untersuchen, weil sie vorzeitig auf ihre Dienststelle zurückgerufen wurden?«
»Das ist richtig.«
»Dann lassen Sie sie doch jetzt wieder herkommen und ihre Untersuchung abschließen. Ich fürchte allerdings, daß uns das nicht viel bringen wird. Inzwischen kann hier alles mögliche an falschen Indizien hereingeschmuggelt worden sein.«
»Oder es ist Material entfernt worden«, meinte Macaskin trübe. »Wir haben ja nur Lord Stinhursts Wort dafür, daß er alle Türen abschloß und auf uns wartete, ohne sonst irgend etwas zu tun.«
Bei der Bemerkung fiel Lynley etwas ein. Er stand plötzlich auf und ging ohne ein Wort von der Kommode zum Schrank und dann zum Toilettentisch. Die beiden anderen Männer sahen, wie er Türen öffnete, Schubladen aufzog, hinter Möbelstücke schaute.
»Das Manuskript«, sagte er. »Sie sind doch hergekommen, um an einem Manuskript für ein Theaterstück zu arbeiten. Joy Sinclair war die Autorin. Aber wo ist das Buch? Wieso sind hier keinerlei Unterlagen? Keine Notizen?«
Macaskin sprang auf. »Ich werd mich gleich mal drum kümmern«, sagte er und eilte hinaus.
Als sich die Tür hinter ihm schloß, öffnete sich die andere Tür. »Wir sind hier fertig«, meldete Barbara Havers von Helen Clydes Zimmer aus.
Lynley sah St. James an. Der streifte seine Handschuhe ab.
»Darauf freu ich mich gar nicht«, bekannte er.
Helen hatte nie darüber nachgedacht, in welchem Maß ihre Selbstsicherheit von ihrem täglichen Bad abhing. Gerade weil ihr dieser kleine Luxus an diesem Tag versagt geblieben war, lechzte sie jetzt förmlich danach, doch Barbara Havers erteilte ihr eine Absage. »Tut mir leid. Ich muß bei Ihnen bleiben, und ich kann mir vorstellen, daß Sie nicht scharf darauf sind, sich von mir den Rücken schrubben zu lassen.«
Die Folge war, daß Helen sich in ihrer Haut, wie nach einer langen Eisenbahnfahrt, nicht wohl fühlte.
Aber Schminken war gestattet, auch wenn es ihr entschieden unangenehm war, sich unter dem wachsamen Auge einer Kriminalbeamtin zurechtzumachen. Sie kam sich vor wie eine Vorführdame. Dieses Gefühl verstärkte sich beim Anziehen, so daß sie einfach das Erstbeste nahm, was ihr in die Hände fiel, ohne Rücksicht darauf, was es war oder wie es an ihr aussah. Sie spürte nur das kühle Gleiten von Seide, die rauhe Berührung von Wolle. Was das für Kleidungsstücke waren, ob sie zusammenpaßten oder die Farben sich bissen, hätte sie nicht sagen können.
Die ganze Zeit hörte sie aus dem Nebenzimmer St. James, Lynley und Inspector Macaskin. Sie sprachen nicht besonders laut, doch sie konnte sie mühelos verstehen. Und sie fragte sich daher, was um alles in der Welt sie ihnen sagen sollte, wenn sie wissen wollten, warum sie in der Nacht nicht einen Laut aus Joy Sinclairs Zimmer gehört hatte. Sie schlug sich immer noch mit dieser Frage herum, als Barbara Havers die Verbindungstür öffnete, um St. James und Lynley ins Zimmer zu lassen.
Sie drehte sich nach ihnen um. »Ich sehe wahrscheinlich grauenhaft aus, Tommy«, sagte sie mit einem heiteren Lächeln. »Du mußt mir bei sämtlichen Göttern der Schneiderkunst schwören, daß du keinem Menschen erzählen wirst, daß ich nachmittags um vier noch im Nachthemd und in Pantoffeln herumgelaufen bin.«
Ohne ihr zu antworten, blieb Lynley neben einem Sessel stehen. Lynley schien das Möbel ziemlich eingehend zu untersuchen. Dann bückte er sich und hob eine schwarze Krawatte vom Boden auf, die er ostentativ über die Rückenlehne legte. Mit einem letzten Blick durch das Zimmer nickte er Barbara zu, und diese klappte ihren Block auf.
All die leichten heiteren Bemerkungen, die Helen eben noch auf der Zunge gehabt hatte, um die amtliche Zurückhaltung zu durchbrechen, mit der Lynley ihr seit dem ersten Zusammentreffen in der Bibliothek begegnet war, zerrannen unter seiner Kälte. Er hatte die
Weitere Kostenlose Bücher