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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Oberhand. Und Helen wurde blitzartig klar, wie er das zu nutzen gedachte.
    »Setz dich, Helen.« Und als sie zu einem Sessel ging: »An den Tisch, bitte.«
    Wie in Joy Sinclairs Zimmer stand der Tisch unter einem Erkerfenster, dessen Vorhänge nicht zugezogen waren. Draußen war es schnell dunkel geworden, und in den Scheiben spiegelten sich geisterhafte Erscheinungen und Streifen goldenen Lichts von der Nachttischlampe an der gegenüberliegenden Wand.
    Draußen bildete sich Reif auf der Scheibe, und Helen wußte, wenn sie die Hand auf das Glas legte, würde es schmerzend kalt sein wie Eis.
    Sie ging zu einem der Stühle, antike Stücke aus dem achtzehnten Jahrhundert, mit einem Dekorationsstoff bezogen, der eine Szene aus der Mythologie zeigte. Helen wußte, daß sie den jungen Mann und die Nymphe, die in ländlicher Idylle flehentlich die Arme nacheinander ausstreckten, hätte erkennen müssen - Lynley erkannte sie sicher. Aber ob es Paris war, der nach dem Urteilsspruch die versprochene Belohnung suchte, oder Echo, die nach Narziß schmachtete, hätte sie nicht sagen können. Es war ihr in diesem Moment auch ziemlich gleichgültig.
    Lynley setzte sich zu Helen an den Tisch. Sein Blick blieb an den verräterischen Gegenständen haften, die darauf standen: eine Flasche Cognac, ein überquellender Aschenbecher, eine Delfter Schale mit Orangen, von denen eine teilweise geschält, aber dann liegengelassen war. Ein schwacher Duft strömte noch von ihr aus. Barbara Havers zog sich den Hocker vom Toilettentisch heran, während St. James langsam durch das Zimmer ging.
    Helen hatte St. James hundertmal zuvor bei der Arbeit gesehen. Sie wußte, wie genau und gründlich er war. Doch als sie jetzt die vertraute Gründlichkeit gegen sich selbst gerichtet sah, als sie beobachtete, wie er in einer ersten, oberflächlichen Untersuchung Kommode und Toilettentisch, Schrank und Fußboden musterte, verlor sie die Fassung. Es war wie eine Verletzung, ein Übergriff, und als er die Decke ihres ungemachten Betts zurückschlug und sich das Laken darunter ansah, konnte sie sich nicht länger zurückhalten.
    »Mein Gott, Simon, ist das unbedingt nötig?«
    Keiner antwortete ihr. Aber das Schweigen war Antwort genug. Bei dem Gedanken, daß sie fast neun Stunden lang eingesperrt gewesen war wie eine gemeine Verbrecherin und jetzt hier brav am Tisch sitzen sollte, während Lynley und St. James sie verhörten, als wären sie nicht alle drei seit Jahren eng befreundet, packte sie ein ungeheurer Zorn. Sie kämpfte dagegen an, aber nur mit beschränktem Erfolg. Sie sah wieder zu Lynley und zwang sich, die Geräusche von St. James' Bewegungen hinter ihr im Zimmer zu ignorieren.
    »Erzähl uns von der Auseinandersetzung gestern abend.«
    Nach Lynleys bisherigem Verhalten hatte Helen erwartet, seine erste Frage würde dem Zimmer gelten. Dieser unerwartete Einstieg überraschte und entwaffnete sie einen Moment, genau wie es von ihm zweifellos beabsichtigt war.
    »Wenn ich das könnte! Ich weiß nur eines mit Sicherheit: daß es um das Stück ging, an dem Joy Sinclair arbeitete. Lord Stinhurst und sie gerieten sich kräftig in die Haare darüber. Und Joanna Ellacourt war wütend.«
    »Warum?«
    »Soweit ich verstanden habe, stimmte das Manuskript, das Joy mit hierher brachte, in wesentlichen Punkten nicht mit dem ursprünglichen Konzept überein, das in London für alle Beteiligten die Vertragsgrundlage gewesen war. Sie sagte zwar schon beim Abendessen, sie hätte einige Veränderungen vorgenommen, aber offensichtlich gingen die Änderungen viel weiter als erwartet. Es war zwar immer noch ein Kriminalstück, aber alles andere hatte sie anscheinend umgestoßen. Das führte dann zu der Auseinandersetzung.«
    »Und wann war das?«
    »Wir waren ins Wohnzimmer gegangen, um das Stück zu lesen. Der Streit begann schon nach fünf Minuten. Es war so merkwürdig, Tommy. Sie hatten kaum angefangen, als Francesca - Lord Stinhursts Schwester - wie von der Tarantel gestochen aus ihrem Sessel aufsprang und Lord Stinhurst anschrie. Ich glaube, sie rief: ›Nein! Stuart, sag ihr, sie soll aufhören!‹ Und dann wollte sie aus dem Zimmer laufen. Aber sie war anscheinend so erregt, daß sie völlig die Orientierung verloren hatte. Jedenfalls rannte sie, als sie sich umdrehte, direkt in eine Glasvitrine. Es ist ein Wunder, daß sie sich an den Scherben nicht verletzt hat.«
    »Und was taten die anderen?«
    Helen beschrieb das Verhalten jeder einzelnen Person, soweit sie

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