02 - Keiner werfe den ersten Stein
Korridortür zu Joy Sinclairs Zimmer ist verschlossen. Die Hauptschlüssel sind nach allem, was wir wissen, nicht zugänglich. Davies-Jones' Fingerabdrücke befinden sich auf dem Schlüssel zu der einzigen anderen Tür, durch die man ins Zimmer von Joy Sinclair gelangen kann. Es gibt keinen Zeugen dafür, was er in der Zeit zwischen, sagen wir, zwei und fünf Uhr, getan hat, da Helen schlief. Und dabei haben wir uns noch nicht einmal mit der Frage befaßt, wo Davies-Jones sich bis ein Uhr morgens aufhielt, bevor er bei Helen auftauchte, oder warum ausgerechnet Helen dieses Zimmer hier bekam. Doch sehr gelegen, meinen Sie nicht, wenn man bedenkt, daß gerade dann, wenn dieser Mann hier aufkreuzt, um eine Liebesnacht mit Helen zu verbringen, ganz zufällig nebenan seine Cousine ermordet wird?«
»Tja, genau das ist der wunde Punkt, nicht wahr?« meinte Barbara. »Die Liebesnacht!«
Lynley nahm Zigarettenetui und Feuerzeug an sich, steckte sie ein und stand auf. Er antwortete Barbara nicht. Aber das war auch gar nicht nötig. Sie wußte sehr wohl, daß die eiserne Contenance, die Teil seiner Erziehung war, eine Neigung hatte, ihn in Momenten persönlicher Krise zu verlassen. In dem Augenblick, in dem sie Helen in der Bibliothek erblickt und Lynleys Gesicht gesehen hatte, als Helen in dem Riesenmantel, der ihr bis auf die Füße hing, durch die Bibliothek gekommen war, hatte Barbara gewußt, daß die Situation dazu angetan war, sich für Lynley zu einer beträchtlichen persönlichen Krise auszuwachsen.
Inspector Macaskin klopfte und trat ein. Sein Gesicht war rot vor Zorn, die Augen blitzten.
»Nicht ein einziges Manuskript im ganzen Haus, Inspector«, sagte er. »Unser guter Lord Stinhurst hat sie allesamt gestern abend verbrannt.«
»So ein Zufall«, murmelte Barbara, den Blick zur Zimmerdecke erhoben.
Im unteren Nordkorridor, der die Länge eines Gevierts rund um einen Hof bildete, wo der Schnee fast bis zu den Fenstern hinaufreichte, führte eine Tür hinaus in den Park. Auf einer Seite neben dieser Tür hatte Francesca Gerrard eine Art Rumpelkammer eingerichtet, wo alte Gummistiefel mit langsam rostenden Gartengeräten, Regenmänteln, Hüten und Mützen, Jacken und Schals durcheinanderlagen. Helen kniete auf dem Boden mitten in diesem Wirrwarr und schleuderte einen Gummistiefel nach dem anderen zur Seite, während sie in hektischer Eile den einen Stiefel suchte, der zu dem paßte, den sie bereits am Fuß hatte. Sie hörte St. James' charakteristischen Schritt auf der Treppe herunterkommen und machte noch schneller, wühlte beinahe verzweifelt in dem Durcheinander, um ja aus dem Haus zu kommen, ehe er sie fand.
Aber der scharfe Instinkt, der St. James befähigte, häufig ihre Gedanken schon zu erraten, noch ehe sie selbst sich ihrer bewußt war, führte ihn jetzt direkt zu ihr. Sie hörte seinen von der Anstrengung stoßweise gehenden Atem und brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, daß sein Gesicht gereizt und ungeduldig war über die Schwäche seines Körpers. Sie spürte die vorsichtige Berührung seiner Hand auf ihrer Schulter und schreckte zurück.
»Ich muß raus hier«, sagte sie.
»Das geht nicht. Es ist viel zu kalt. Außerdem hätte ich größte Schwierigkeiten, dir in der Dunkelheit zu folgen, und ich möchte mit dir reden, Helen.«
»Ich glaube nicht, daß wir einander etwas zu sagen haben. Ich kann nur hoffen, du hast die Peep-Show genossen. Oder wolltest du der Nutte ein kleines Trinkgeld geben?«
Sie hob den Kopf bei ihren Worten und sah, wie sich sein Blick verdunkelt hatte. Aber es freute sie nicht, ihn verletzt zu haben; im Gegenteil, sie bereute augenblicklich ihre Worte. Sie gab die Suche nach dem Gummistiefel auf und stand auf, eine!Stiefel am Fuß, einen anderen, der nicht der Richtige war, nutzlos in der Hand. St. James nahm ihre freie Hand.
»Ich kam mir vor wie ein Flittchen«, flüsterte sie. Ihre Augen waren heiß und trocken. Sie hätte nicht weinen können, selbst wenn sie gewollt hätte. »Das werde ich ihm niemals verzeihen.«
»Das würde ich auch gar nicht von dir verlangen. Ich bin nicht gekommen, um Tommy zu entschuldigen, nur um dir zu sagen, daß ihm heute einige Wahrheiten ziemlich hart um die Ohren geschlagen worden sind. Leider war er nicht bereit, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber das muß er dir selbst erklären. Wenn er kann.«
Helen zupfte unglücklich am Rand des schwarzen, verschmierten Stiefels, den sie in der Hand hielt.
»Hättest du seine
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