02 - Keiner werfe den ersten Stein
bewahrte Ruhe war zerstört. Tumult brach aus. Gewalt. Heisere Schreie schrillten durch den Raum. Glas fiel klirrend zu Boden. Füße stießen Möbelstücke zur Seite. Gowan umschlang Gabriels Hals und schleifte den keuchenden, schluchzenden Mann zum Kamin.
»Sagen Sie mir's!« Gowan drückte Gabriels gutaussehendes, jetzt vor Schmerz verzerrtes Gesicht über die Abschirmung des Kamins zu den glimmenden Kohlen hinunter.
»Sagen Sie mir's, Sie Dreckskerl!«
»Rhys!« Irene Sinclair lehnte sich starr vor Angst in ihrem Sessel zurück. »Tu doch was! Halte ihn fest.«
Davies-Jones und Sydeham sprangen über umgestürzte Stühle und eilten an Lady Stinhurst und Francesca Gerrard vorbei, die sich starr vor Entsetzen zusammendrängten. Sie erreichten Gowan und Gabriel, mühten sich umsonst, sie zu trennen. Gowan hatte den Schauspieler im Schwitzkasten.
»Glaub ihm nicht, Gowan«, flüsterte Davies-Jones dem Jungen eindringlich ins Ohr. Er faßte ihn bei der Schulter und schüttelte ihn, um ihn zur Vernunft zu bringen. »Laß dich nicht hinreißen, mein Junge. Laß ihn los. Es reicht!«
Die Worte - das Verständnis, das sie ausdrückten - drangen trotz seines wilden Zorns zu Gowan durch. Er gab Robert Gabriel frei, riß sich von Davies-Jones los und ließ sich nach Luft schnappend zu Boden fallen.
Ihm war klar, daß er etwas Ungeheuerliches getan hatte, daß er darüber seine Stellung - und Mary Agnes - verlieren würde. Aber seine Erbitterung, die Qual, zu lieben und nicht geliebt zu werden, waren so stark, daß er die Drohung dennoch aussprechen mußte, ohne zu bedenken, welche Wirkung sie vielleicht auf andere im Raum haben würde; nur um zu verletzen, wie er selbst verletzt worden war.
»Aber ich weiß alles! Und ich sag's der Polizei. Dann werden Sie schon sehen.«
»Gowan!« rief Francesca Gerrard entsetzt.
»Sag es lieber gleich, mein Junge«, sagte Davies-Jones.
»Sei nicht dumm und sag solche Sachen, wo hier ein Mörder im Zimmer ist.«
Elizabeth Rintoul, die sich während des ganzen Tumults nicht gerührt hatte, hob jetzt den Kopf, als erwache sie aus tiefem Schlaf. »Nein. Hier nicht. Vater ist doch im Wohnzimmer, nicht wahr?«
»Sie sehen natürlich nur die Marguerite von heute, eine Frau von neunundsechzig Jahren, alt und verbraucht. Aber mit vierunddreißig war sie schön. Von einer sprühenden Lebendigkeit. Und so voller Lebenslust.«
Stinhurst war rastlos aufgestanden und zu einem anderen Sessel gegangen, der in einer dunklen Ecke des Zimmers stand. Er setzte sich nieder und beugte sich vor, die Arme auf die Knie gestützt, den Blick zum Teppich gesenkt. Seine Stimme war tonlos, die Stimme eines Mannes, der erzählt, was erzählt werden muß, und seine Gefühle nicht verausgaben will.
»Sie und mein Bruder Geoffrey verliebten sich kurz nach dem Krieg ineinander.«
Lynley sagte nichts. Aber es fiel ihm schwer zu verstehen, wie ein Mann, selbst aus einem Abstand von sechsunddreißig Jahren, so ohne jeden Affekt von einem derartigen Akt des Verrats und der Treulosigkeit sprechen konnte. Dieser Mangel an Emotion konnte nur bedeuten, daß der Mann innerlich tot war, von nichts mehr zu bewegen war, daß er seine Karriere nur deshalb mit solcher Zielstrebigkeit verfolgt hatte, um sich niemals mit dem Schmerz und der Enttäuschung seines persönlichen Lebens auseinandersetzen zu müssen.
»Geoff war ein hochdekorierter Offizier. Er kam als Held aus dem Krieg zurück. Es war wahrscheinlich ganz normal, daß Marguerite sich zu ihm hingezogen fühlte. Das ging allen so. Er hatte etwas an sich - etwas Gewisses.« Stinhurst schwieg nachdenklich.
»Waren Sie auch im Krieg?« fragte Lynley.
»Ja. Aber bei mir war es anders als bei Geoffrey. Ich besaß nicht seine Begeisterung, seine Hingabe. Mein Bruder war wie ein Feuer. Sprühend, glanzvoll. Und wie das Feuer konnte er andere locken und in seinen Bann ziehen. Marguerite gehörte dazu. Elizabeth wurde auf einer Reise gezeugt, die Marguerite allein zum Sitz unserer Familie in Somerset unternahm. Es war im Sommer, und ich war zwei Monate unterwegs, unentwegt auf Reisen von Ort zu Ort mit einer Theatergruppe, die ich leitete. Marguerite hatte mich begleiten wollen, aber ich fand, das wäre nur eine Belastung für mich gewesen, weil ich mich ja um sie hätte kümmern müssen. Ich meinte -« er scheute sich nicht, die Verachtung zu zeigen, die er gegen sich selbst empfand, »sie würde mir nur im Weg sein. Meine Frau war nicht dumm, Thomas. Sie ist es im
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