02 - Keiner werfe den ersten Stein
übrigen auch heute nicht. Sie merkte genau, daß ich sie nicht dabeihaben wollte, und sprach das Thema nicht mehr an. Ich hätte begreifen müssen, was das bedeutete, aber ich war viel zu beschäftigt, um zu erkennen, daß Marguerite ihre eigenen Wege ging. Ich wußte damals nicht, daß sie zu Geoffrey fuhr. Ich erfuhr nur am Ende des Sommers, daß sie schwanger war. Sie weigerte sich, mir zu sagen, von wem das Kind war.«
Daß Lady Stinhurst ihrem Mann diese Auskunft verweigert hatte, konnte Lynley verstehen. Daß Stinhurst dennoch die Ehe aufrechterhalten hatte, war ihm unverständlich.
»Warum ließen Sie sich nicht scheiden? Das wäre sicher unerfreulich gewesen, aber es hätte Ihnen doch einen gewissen Frieden gebracht.«
»Alecs wegen«, antwortete Stinhurst. »Unseres Sohnes wegen. Sie sagten es eben selbst, eine solche Scheidung wäre höchst unerfreulich gewesen. Schlimmer. Damals hätte sie einen Skandal verursacht, der in sämtlichen Zeitungen breitgetreten worden wäre. Ich konnte Alec einer solchen Tortur nicht aussetzen. Ich wollte es nicht. Er bedeutete mir zuviel. Mehr vielleicht als meine Ehe.«
»Aber gestern abend beschuldigte Joy Sie, Alec umgebracht zu haben.«
Stinhurst lächelte müde, Ausdruck von Schmerz und Resignation. »Alec - mein Sohn, war bei der Royal Air-Force. Seine Maschine stürzte 1978 bei einem Testflug über den Orkney Inseln ab. In die -« Stinhurst zwinkerte und setzte sich anders, »in die Nordsee.«
»Joy wußte das?«
»Natürlich. Sie liebte Alec. Die beiden wollten heiraten. Sie war außer sich über seinen Tod.«
»Sie waren gegen die Heirat?«
»Ich war nicht gerade begeistert darüber. Aber ich habe nichts unternommen, um sie zu verhindern. Ich schlug ihnen lediglich vor, sie sollten warten, bis Alec seinen Dienst getan hatte. Jeder in unserer Familie hat beim Militär gedient. Wenn so etwas dreihundert Jahre lang Tradition war, möchte man nicht, daß der eigene Sohn der erste ist, der sie durchbricht.« Zum ersten Mal verriet Stinhursts Stimme Gefühle. »Aber Alec wollte nicht zum Militär, Thomas. Er wollte Geschichte studieren, Joy heiraten, schreiben und vielleicht an der Universität unterrichten. Und ich - blinder Patriot, dem die Familientradition wichtiger war als der eigene Sohn -, ich ließ ihm keine Ruhe, bis ich ihn dazu gebracht hatte, seine Pflicht zu tun. Er entschied sich für di!Luftwaffe. Ich vermute, er glaubte, er würde dann im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung den Schauplätzen am fernsten sein.« Stinhurst sah hastig auf und sagte, als müsse er seinen Sohn verteidigen: »Er hatte keine Angst vor der Gefahr. Aber der Krieg war ihm etwas Schauderhaftes. Keine unnatürliche Reaktion bei einem Historiker.«
»Wußte Alec von der Beziehung zwischen Ihrer Frau und Ihrem Bruder?«
Stinhurst hatte den Kopf schon wieder gesenkt. Das Gespräch schien ihn anzustrengen, seiner letzten Kräfte zu berauben. »Ich glaubte, nein. Ich hoffte, nein. Aber ich weiß jetzt, nach dem, was Joy gestern abend sagte, daß er davon wußte.«
Und er hatte Jahre vergeudet an eine Farce, mit der er Alec hatte schützen wollen und die völlig sinnlos gewesen war.
»Ich war immer so verdammt kultiviert. Darum lebten wir diese Lüge, daß Elizabeth meine Tochter sei, immer weiter. Bis zum Silvesterabend 1962.«
»Was geschah da?«
»Ich entdeckte die Wahrheit. Es war nur eine zufällige Bemerkung, ein Lapsus, der mir verriet, daß mein Bruder Geoffrey jenen Sommer nicht, wie immer vorgegeben worden war, in London verbracht hatte, sondern in Somerset. Da wußte ich Bescheid. Aber ich vermute, geahnt habe ich es immer.«
Stinhurst stand abrupt auf. Er ging zum Kamin, warf ein paar Stücke Kohle ins Feuer und sah zu, wie die Flammen aufloderten. Lynley wartete. Vielleicht brauchte der Mann diese Pause, um seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Es kam - es gab einen entsetzlichen Auftritt. Es ging weit über einen Streit hinaus. Es war eine Prügelei. Hier auf Westerbrae. Phillip Gerrard, der Mann meiner Schwester, machte ihm schließlich ein Ende. Geoffrey ging es schlecht danach. Er fuhr kurz nach Mitternacht ab.«
»War er denn überhaupt imstande dazu?«
»Er glaubte es wohl. Ich bekenne, daß ich nicht versucht habe, ihn aufzuhalten. Marguerite versuchte es, aber er wollte nichts von ihr wissen. Er stürmte wie ein Rasender aus dem Haus, und keine fünf Minuten später hatte er an der Kehre unterhalb der Hillview Farm einen
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