02 - Keiner werfe den ersten Stein
die zwischen ihren Lippen hing, verglich sie den Plan mit ihren Aufzeichnungen. Nicht weit entfernt war einer der Männer von der Spurensicherung dabei, die schottischen Dolche, die in dekorativer kreisförmiger Anordnung über dem Büffet an der Wand hingen, auf Fingerabdrücke zu überprüfen, und pfiff dabei mit einer Hingabe, die Betty Buckley alle Ehre gemacht hätte, das Lied Memories. Die Dolche waren Teil einer größeren Sammlung von Hellebarden und Musketen und Lochaber Äxten, die alle gleich tödlich wirkten.
Den Blick auf den Plan gerichtet, versuchte Barbara, Gowan Kilbrides Aussage mit ihrer eigenen bevorzugten Auslegung der Fakten in Einklang zu bringen. Einfach war es nicht. Sie war erleichtert, als der Klang von Schritten draußen in der Halle ihr Vorwand bot, ihre Aufmerksamkeit anderem zuzuwenden. Sie hob den Kopf und fegte so ungeduldig und heftig die Asche von ihrem Pullover, daß ein dunkelgrauer Fleck auf der Wolle zurückblieb.
Lynley kam herein. Mit einer kurzen Kopfbewegung wies er zu einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Barbara nahm ihren Block und folgte ihm durch die Anrichte und die Geschirrkammer in die Küche. Es roch nach Rosmarinfleisch und nach Tomaten, die in irgendeiner Soße auf dem Herd köchelten. An einem großen Arbeitstisch in der Mitte stand eine ältere Frau über ein Holzbrett gebeugt und schnitt mit einem höchst gefährlich aussehenden Messer Kartoffeln in kleine Würfel. Sie war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, mehr einer Laborantin als einer Köchin ähnelnd.
»Die Leute brauchen was zu essen«, erklärte sie bärbeißig, als sie Barbara und Lynley bemerkte, und schwang dabei beinahe drohend ihr Messer.
Barbara hörte Lynley eine angemessene Erwiderung murmeln, ehe er weiterging und sie durch eine Tür am anderen Ende der Küche zu einer kurzen Treppe von nur drei Stufen führte, an deren Ende sich die Spülküche befand, klein und eng und schlecht erleuchtet, doch mit dem Vorteil, daß man hier ungestört war und es warm hatte. Die Hitze entströmte einem großen alten Boiler, der keuchend und pfeifend in einer Ecke des Raumes stand und rostbraunes Wasser auf den gesprungenen Fliesenboden tropfen ließ. Die Atmosphäre hatte Ähnlichkeit mit der in einem Dampfbad, feucht und warm mit einem Dunst von Moder und nassem Holz. Direkt hinter dem Boiler führte die Hintertreppe zum oberen Geschoß des Hauses hinauf.
»Was hatten Gowan und Mary Agnes zu erzählen?« fragte Lynley, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
Barbara ging zum Spülbecken, hielt ihre Zigarette unter den tropfenden Wasserhahn und warf den Stummel in den Müll. Sie strich sich das kurze braune Haar hinter die Ohren und zupfte sich ein Tabakfädchen von der Zunge, ehe sie sich ihrem Block zuwandte. Sie hatte ein ungutes Gefühl, und es quälte sie, daß sie nicht recht bestimmen konnte, was der Grund dafür war: ihr Ärger darüber, daß Lynley sie zuvor aus dem Wohnzimmer verbannt hatte, oder ihre Vorahnung, wie er auf ihren Bericht reagieren würde. Sie hätte es nicht sagen können. Aber was immer auch die Quelle ihres Mißvergnügens war, sie saß ihr wie ein Stachel im Fleisch, und wenn er nicht herauskam, würde die Stelle zu eitern anfangen.
»Gowan«, sagte sie kurz und lehnte sich an das verzogene Holz des Arbeitstisches, der an der Wand stand. Er war noch naß von der letzten Wäsche, und sie spürte die Feuchtigkeit durch ihre Kleider. Sie trat einen Schritt weg. »Er hatte vorhin einen ziemlich üblen Zusammenstoß mit Robert Gabriel in der Bibliothek, unmittelbar ehe ich mit ihm sprach. Kann sein, daß ihm das die Zunge gelockert hat.«
»Was für einen Zusammenstoß?«
»Eine richtige Prügelei, bei der unser schöner Mr. Gabriel, mit Verlaub gesagt, kräftig eins in die Fresse bekam. Gowan erzählte mir ausführlich davon und auch von dem Streit zwischen Gabriel und Joy Sinclair, den er gestern nachmittag mitbekam. Die beiden hatten offenbar ein Verhältnis miteinander, und Gabriel versuchte mit allen Mitteln Joy zu überreden, seiner Exgattin - Irene Sinclair, Joys Schwester - zu sagen, er hätte nur ein einziges Mal mit ihr geschlafen.«
»Und warum?«
»Er scheint seine Irene unbedingt zurückhaben zu wollen und glaubte wohl, Joy könnte zu einer Versöhnung beitragen, wenn sie Irene erklärte, daß es sich bei ihrem Abenteuer mit Gabriel nur um eine einmalige Vorstellung gehandelt hat. Aber Jo!weigerte sich, das zu tun. Sie sagte, lügen sei nicht ihre
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