02 - Keiner werfe den ersten Stein
Doch er wandte sich hastig von ihr ab und ging nicht weiter.
Sie sah, daß ihm seine Grobheit leid tat. Aber sie selbst hatte ihn ja dazu getrieben, sie hatte sich gewünscht, daß sein Zorn überlaufen würde genau wie der ihre vorher, als er sie aus dem Wohnzimmer gewiesen hatte. Jetzt erkannte sie klar, daß sie sich mit solchem manipulativen Verhalten seine Achtung gewiß nicht erwerben würde. Sie ärgerte sich über ihre Instinktlosigkeit und ihre Dummheit.
»Tut mir leid«, sagte sie kleinlaut. »Ich bin zu weit gegangen, Inspector. Wieder mal aus der Rolle gefallen.«
Lynley reagierte nicht sogleich. Sie standen auf der Treppe, von innerer Anspannung gefangen und jeder in seinen eigenen Schmerz verstrickt. Es schien Lynley Anstrengung zu kosten, sich daraus zu befreien.
»Wenn wir jemanden festnehmen, dann auf der Grundlage konkreter Beweise, Barbara.«
Sie nickte. »Das weiß ich, Sir. Aber ich glaube ...« Er würde es nicht hören wollen. Er würde es ihr übelnehmen. Dennoch wagte sie es. »Ich glaube, Sie übersehen das Naheliegende, um Davies-Jones aufs Korn nehmen zu können. Nicht aufgrund von Beweisen, sondern aus einem ganz anderen Grund, der - den Sie sich vielleicht nicht eingestehen wollen.«
»Das stimmt nicht«, entgegnete Lynley und setzte sich wieder in Bewegung.
Als sie oben waren und durch den Flur gingen, zeigte ihm Barbara die einzelnen Zimmer. Erst Gabriels, das der Hintertreppe am nächsten war, dann Vinneys, Elizabeth Rintouls und Irene Sinclairs. Ihrem Zimmer gegenüber war das von Rhy!Davies-Jones; an jener Stelle, wo der Westkorridor eine Biegung nach rechts machte, breiter wurde und zum Hauptgebäude führte. Hier waren alle Türen abgeschlossen, und auf ihrem Weg durch den breiten Gang, an dessen Wänden, von zierlichen Wandleuchten erhellt, die Porträts mehrerer Generationen ernstblickender Gerrards hingen, kam ihnen St. James entgegen und reichte Lynley einen Plastikbeutel.
»Helen und ich haben das in einem der Stiefel unten gefunden«, sagte er. »David Sydeham sagt, es sei seiner.«
6
Es war schwer zu glauben, daß eine Frau von Joanna Ellacourts Ruhm und Ansehen seit nunmehr fast zwanzig Jahren mit einem Mann wie David Sydeham verheiratet war. Die Kitschversion ihrer gemeinsamen Geschichte war Lynley bekannt, der rührselige Quatsch, den die Boulevardblätter ihren Lesern zum schnellen Konsum in der Untergrundbahn zu servieren pflegen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches: ein neunundzwanzigjähriger Theateragent aus den Midlands - der Sohn eines Landpfarrers -, der kaum mehr vorzuweisen hat als gutes Aussehen und unerschütterliches Selbstvertrauen, entdeckt auf der Bühne eines Hinterhoftheaters in Nottingham eine Neunzehnjährige mit großem Talent, überredet sie, sich mit ihm zusammenzutun, befreit sie aus dem harten Arbeitermilieu, in dem sie großgeworden ist, läßt ihr Schauspielunterricht geben und fördert sie auf Schritt und Tritt ihrer langsamen Karriere, bis sie, wie er von Anfang an gewußt hat, eines Tages geschafft hat, Englands berühmteste und meistbeschäftigte Schauspielerin zu sein.
David Sydeham war auch nach zwanzig Jahren noch ein vor allem in seiner Sinnlichkeit attraktiver Mann, aber er wirkte verlebt, unschön gezeichnet von den Freuden, die er wohl im Übermaß genossen hatte. Seine Haut zeigte die ersten Spuren eines ausschweifenden Lebens. Gesicht und Hände waren schwammig und aufgedunsen. Wie die anderen Männer auf Westerbrae hatte Sydeham am Morgen keine Zeit gehabt, sich zu rasieren, so daß er ungepflegt wirkte, als hätte er die Nacht durchgemacht. Dunkle Bartstoppeln lagen wie Schatten auf seinem Gesicht und ließen die tiefen Ringe unter den schwerlidrigen Augen um so stärker hervortreten. Seine Kleidung aber wahrte den Stil; er verstand es unverkennbar, da!Beste aus sich zu machen. Hemd und Anzug waren ihm auf den bulligen Körper geschneidert und gewiß so teuer gewesen wie die Armbanduhr und der Siegelring, deren Gold im Feuerschein aufblitzte, als er im Wohnzimmer Platz nahm. Nicht auf einem steiflehnigen Stuhl, wie Lynley bemerkte, sondern in einem bequemen Sessel im Halbdunkel in einer Ecke des Raumes.
»Mir ist die Funktion, die Sie an diesem Wochenende hier hatten, nicht ganz klar«, sagte Lynley, während Barbara Havers die Tür schloß und sich an den Tisch setzte.
»Sie meinen vielleicht meine Funktion insgesamt?« Sydehams Gesicht zeigte freundliche Gleichgültigkeit.
Seine Bemerkung war interessant. »Wenn Sie
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