02 - Keiner werfe den ersten Stein
Überwurf einen gespenstischen Schatten an die Wand warf. Hier hingen keine Porträts, keine Gobelins, nichts sprach hier von Bequemlichkeit oder gar Luxus. Nur eintönig weiße Wände starrten einen an, und auf dem Holzboden lag ein stark abgetretener Läufer.
Elizabeth Rintoul warf einen hastigen Blick zurück, eilte beinahe lautlos den Flur hinunter und blieb vor der Tür zum Zimmer ihrer Tante lauschend stehen. Aus dem oberen Stockwerk des Westflügels konnte sie gedämpfte Stimmen hören. Doch aus dem Zimmer war kein Laut zu vernehmen. Sie tippte mit den Fingernägeln an das Holz, eine nervöse Bewegung, die dem Picken kleiner Vögel glich. Niemand forderte sie auf einzutreten. Sie klopfte noch einmal.
»Tante Francie?« Mehr als ein Flüstern riskierte sie nicht. Aber es blieb alles still.
Sie wußte, daß ihre Tante im Zimmer war. Sie hatte sie vor noch nicht fünf Minuten, nachdem die Polizei endlich alle Zimmer aufgesperrt hatte, durch diesen Flur gehen sehen. Sie drehte den Türknauf mit schweißfeuchter Hand.
Drinnen roch es nach muffigen Ambrakugeln, nach atemnehmend süßem Gesichtspuder, scharfem Kampfer und billigem Eau de Cologne. Das Zimmer war schmucklos wie der Gang, der zu ihm hinführte; ein schmales Bett, ein Schrank und eine Kommode, ein hoher Ankleidespiegel, der seltsam grüne Lichter warf, das Glas verzerrt, so daß Stirnen hochgewölbt erschienen und Hälse lang und dünn.
Nicht immer war dieser Raum das Schlafzimmer ihrer Tante gewesen. Erst nach dem Tod ihres Mannes war Francesca Gerrard in diesen Teil des Hauses umgezogen, als gehörten Schmucklosigkeit und Unbequemlichkeit zur Trauer um ihn. Sie saß aufrecht auf der äußersten Bettkante, ihre ganze Aufmerksamkeit auf eine Porträtaufnahme ihres Mannes gerichtet, die, einziges Dekorationsstück dieses Zimmers, an der Wand hing. Die Aufnahme zeigte einen sehr ernsten Mann, nicht jenen Onkel Phillip, an den sich Elizabeth aus ihrer Kindheit erinnerte, vielmehr den schwermütigen Mann, zu dem er nach jenem Silvester geworden war. Onkel Geoffrey.
Elizabeth schloß die Tür leise hinter sich, dennoch fuhr ihre Tante bei dem feinen Geräusch mit einem erstickten Aufschrei hoch und drehte sich um, beide Hände wie Klauen in erschrockener Abwehr erhoben.
Elizabeth erstarrte. Diese Bewegung hatte genügt, eine Erinnerung zu wecken, die sie seit Jahren unterdrückt hatte, ein Erlebnis, das vergessen zu sein schien. Die Erinnerung an ein sechsjähriges Mädchen, das in Somerset fröhlich zu den Stalljungen hinaushopste; die Küchenmädchen erblickte, die vor der Steinmauer des Gebäudes hockten und durch eine Ritze spähten, aus der Mörtel herausgefallen war. »Komm Kleine, willst du mal zwei Schwulis sehen«, flüsterten sie. Und sie, die nicht wußte, was das zu bedeuten hatte, aber immer begierig war - immer so rührend begierig -, mit allen gut Freund zu sein, hatte das Auge an das Guckloch gelegt und zwei Stalljungen gesehen, splitterfasernackt beide, der eine auf allen vieren, der andere stoßend und schnaubend hinter ihm, beide Körper schweißnaß, glänzend. Erschrocken war sie zurückgefahren, begleitet vom unterdrückten Gelächter der Mädchen. Gelächter über sie. Über ihre Unschuld und Naivität. Und am liebsten hätte sie sie geschlagen, ihnen weh getan, ihnen die Augen ausgekratzt. Mit Klauen wie die ihrer Tante.
»Elizabeth!« Francesca ließ die Arme sinken. Ihr Körper san!zusammen. »Du hast mich erschreckt, Kind.«
Elizabeth verscheuchte die Erinnerung. Sie sah, daß ihre Tante dabei gewesen war, sich zum Abendessen anzukleiden, als das Bild ihres Mannes sie in die Apathie gezogen hatte, aus der Elizabeth sie aufgestört hatte. Jetzt betrachtete sie kritisch ihr Spiegelbild, während sie eine Bürste durch das dünn gewordene graue Haar zog. Sie lächelte Elizabeth zu, doch ihre zitternden Lippen verrieten, daß sie nicht so ruhig war, wie sie zu sein vorgab.
»Weißt du, als junges Mädchen habe ich mir angewöhnt, in den Spiegel zu schauen, ohne mein Gesicht zu sehen. Es heißt immer, das geht nicht, aber ich habe es geschafft. Ich kann mein Haar richten, mich schminken, die Ohrringe anstecken, alles. Und dabei brauche ich nie zu sehen, wie häßlich ich bin.«
Elizabeth versuchte gar nicht erst eine beschwichtigende Widerrede. Sie wäre Lüge gewesen. Francesca Gerrard war wirklich eine häßliche Frau und war es immer gewesen, geschlagen mit einem langen Pferdegesicht, vorstehenden Zähnen und einem
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