02 - Keiner werfe den ersten Stein
Verstimmung über die Rücksichtslosigkeit der Polizei gab sie Ausdruck, indem sie weder Lynley noch Barbara Havers eines Wortes würdigte, als sie an ihnen vorüber ins Wohnzimmer ging und sich den Platz aussuchte, der ihr gefiel, den hochlehnigen Stuhl am Kamin, den Sydeham gemieden und auf dem Stinhurst nur widerstrebend Platz genommen hatte. Daß sie gerade diesen Platz wählte, war interessant; entweder zeigte sich darin ihre Entschlossenheit, dieses Verhör stolz und aufrecht über sich ergehen zu lassen, oder aber es steckte die Hoffnung dahinter, das lebhafte Spiel des Feuerscheins auf ihrer Haut und ihrem Haar würde den Beobachter ablenken. Joanna Ellacourt verstand sich schließlich darauf, ein Publikum zu manipulieren.
Es fiel Lynley schwer zu glauben, daß sie fast vierzig Jahre alt war. Sie sah mindestens zehn Jahre jünger aus und erinnerte ihn, wie sie da im schmeichelnden Licht des Feuers saß, das ihre Haut mit mattgoldenem Schimmer übergoß, an François Bouchers Ruhende Diana. Die matte Glut der Haut, die zart!Färbung der Wangen, der sanfte Schwung des Ohrs, als sie ihr Haar zurückwarf, das alles hatte sie mit Bouchers Göttin gemeinsam, und wären ihre Augen braun gewesen und nicht tiefblau, hätte man sie für das Modell des Malers halten können.
Kein Wunder, daß Gabriel hinter ihr her ist, dachte Lynley. Er bot ihr eine Zigarette an, die sie annahm. Ihre Hand, lange, kühle Finger, an denen mehrere Brillanten blitzten, schloß sich leicht um die seine, um die Flamme des Feuerzeugs ruhig zu halten. Es war eine einstudierte Geste, bewußt verführerisch.
»Warum hatten Sie gestern abend mit Ihrem Mann Streit?« fragte er.
Joanna zog eine Augenbraue hoch und nahm sich die Zeit, Barbara Havers in ihrem zerknitterten Rock und dem rußbefleckten Pullover zu mustern. »Weil ich es leid bin, mir ständig Robert Gabriels Dreistigkeiten gefallen lassen zu müssen«, antwortete sie freimütig und schwieg wie in Erwartung einer Erwiderung - eines Nickens des Verständnisses vielleicht oder eines mißbilligenden Zungenschnalzens. Als nichts dergleichen erfolgte, keinerlei Ermutigung, fuhr sie aus eigenem Antrieb zu sprechen fort, wenn auch mit leicht belegter Stimme. »Mein letzter Auftritt im Othello artete jedesmal praktisch zur Vergewaltigungsszene aus, Inspector. An der Stelle, wo er mich ersticken sollte, fing er an, mir zuzusetzen wie ein Zwölfjähriger, der gerade entdeckt hat, was er mit seinem kleinen Schwänzchen alles Lustiges anstellen kann. Ich hatte restlos genug von ihm. Ich glaubte, David hätte das begriffen. Aber ich täuschte mich. Er schloß einen neuen Vertrag für mich ab, der mich zwang, wieder mit Gabriel zu arbeiten.«
»Sie stritten wegen des neuen Stücks.«
»Wir stritten wegen allem. Das neue Stück war nur ein Teil davon.«
»Sie waren mit Irene Sinclairs Rolle nicht einverstanden.«
Joanna schnippte die Asche ihrer Zigarette in den Kamin.
»Für meine Begriffe hätte mein Mann diese Sache gar nicht dümmer anfangen können. Er hatte mich in eine unsägliche Situation gebracht. Für die nächsten zwölf Monate hätte ich Abend für Abend Gabriels Unverschämtheiten abwehren und gleichzeitig darauf achten müssen, daß seine Exgattin nicht über meine Leiche ihre neue Karriere startete. Ich will ganz ehrlich sein, Inspector. Es tut mir überhaupt nicht leid, daß aus Joys neuem Stück nichts wird. Sie können das als ein offenes Schuldgeständnis auslegen, wenn Sie wollen, aber es fällt mir nicht ein, hier tiefe Trauer über den Tod einer Frau zu mimen, die ich kaum kannte. Und wenn Sie das als ein Motiv sehen, sie zu ermorden, kann ich es leider nicht ändern.«
»Ihr Mann sagte uns, daß Sie gestern nacht eine ganze Weile nicht in Ihrem Zimmer waren.«
»Sie meinen, ich hätte die Gelegenheit gehabt, Joy zu töten? Ja, so sieht es wahrscheinlich aus.«
»Was taten Sie nach der Auseinandersetzung in der Galerie?«
»Zuerst bin ich in unser Zimmer gegangen.«
»Wann war das?«
»Kurz nach elf, denke ich. Aber dort bin ich nicht geblieben. Ich wußte, daß David kommen würde, tief geknickt über den Krach und bemüht, alles auf die übliche Weise wiedergutzumachen. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte ihn überhaupt nicht sehen. Ich bin ins Musikzimmer neben der Galerie gegangen. Da stehen ein uraltes Grammophon und eine ganze Menge noch ältere Platten. Ich habe mir einige angehört. Francesca Gerrard scheint ein Ethel-Merman-Fan zu sein.«
»Glauben
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