02 - Keiner werfe den ersten Stein
daß ihm jener Teil des Dreiecks Motiv - Mittel - Gelegenheit, der ihm noch gefehlt hatte, so leicht in die Hände fallen sollte. Aber nun hatte er, was er gesucht, was er zu finden gehofft hatte. Ein Motiv für den Mord. Noch unbestimmt, gewiß, aber die Details, ihm Substanz und Definition zu geben, würden sich finden. Und auch die Verbindung lieferte das Band mit Joys letzten Worten: »... Rhys fragen, wie ich ihn am besten anpacken soll. Er kann mit Menschen umgehen.«
Lynley schob die Gegenstände aus Joy Sinclairs Handtasche wieder in den Plastikbeutel. Er fühlte sich ermutigt und doch gleichzeitig voll Zorn über das, was in der vergangenen Nacht hier geschehen war, und tief bedrückt bei dem Gedanken an den Preis, den er persönlich würde zahlen müssen, wenn er der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen wollte.
An der Tür - Barbara Havers war schon draußen im Korridor - hielten Irene Sinclairs letzte Worte ihn noch einmal auf. Sie stand am Bett vor einer Wand mit unaufdringlicher Tapete, umgeben von hübschen Möbeln, in einem gemütlichen Zimmer, in dem nichts gewagt oder herausfordernd war. Sie wirkte wie gefangen darin.
»Die Streichhölzer, Inspector«, sagte sie. »Joy hat nicht geraucht.«
Marguerite Rintoul schaltete das Licht im Zimmer aus, nicht weil sie schlafen wollte; sie wußte, sie würde nicht schlafen können. Ein letzter Rest weiblicher Eitelkeit veranlaßte sie dazu. Die Dunkelheit verbarg die tausend Fältchen ihrer zerknitterten Haut. Im Dunkeln fühlte sie sich geborgen, geschützt vor dem Anblick der alten Frau mit den schlaffen Brüsten, dem schütter werdenden Haar, den von Altersflecken gesprenkelten Händen, die nichts mehr liebkosten.
Sie legte den Roman, in dem sie gelesen hatte, auf den Nachttisch. Selbst in der Dunkelheit konnte sie den kitschig aufdringlichen Umschlag, den banalen Titel erkennen. Leidenschaft eines Sommers. Nichts als Zeitverschwendung, sagte sie sich.
Sie sah zu ihrem Mann hinüber, der in einem Lehnstuhl am Fenster saß, versunken, wie es schien, in die Betrachtung der nächtlichen Landschaft, der Sterne, die hinter treibenden Wolken aufblitzten, das Spiel von Licht und Schatten auf dem unberührten Schnee. Er war voll angekleidet, geradeso wie sie selbst, die auf dem Bett saß, den Kopf angelehnt, eine Wolldecke über den ausgestreckten Beinen. Sie war keine drei Meter von ihm entfernt, und doch lag eine Kluft von fünfundzwanzig Jahren voll Geheimhaltung und Verleugnung zwischen ihnen. Es war Zeit, diese Trennung endlich zu überwinden.
Aber schon der Gedanke daran lahmte sie. Jedesmal, wenn sie meinte, dieser Atemzug jetzt trage endlich das erste erlösende Wort in sich, bäumte sich alles in ihr auf - ihre Erziehung, ihre Vergangenheit - und erstickte den Impuls. Konfrontationen dieser Art hatte sie nie gelernt.
Sie wußte, wenn sie jetzt mit ihrem Mann sprach, würde sie alles riskieren; es war ein Vorstoß ins Unbekannte, der die Gefahr in sich barg, an der unüberwindlichen Mauer seines jahrzehntelangen Schweigens abzuprallen. Schon früher hatte sie zaghafte Schritte in diese Richtung gewagt, und sie wußte, wie wenig möglicherweise ihre Bemühungen fruchten, und sie wußte, wie tief ihr Scheitern sie bedrücken würde. Aber es war an der Zeit.
Sie schwang die Beine vom Bett. Plötzlicher Schwindel überkam sie, als sie aufstand, aber er verging rasch. Langsam ging sie durchs Zimmer und war sich dabei der Kälte im Raum und ihrer eigenen Beklemmung bewußt. In ihrem Mund war ein säuerlicher Geschmack.
»Stuart.« Stinhurst rührte sich nicht. Marguerite sprach mit Bedacht. »Du mußt mit Elizabeth sprechen. Du mußt ihr alles sagen. Du mußt.«
»Joy zufolge weiß sie es bereits. Genau wie Alec es wußte.«
Die letzten Worte fielen wie dumpfe Schläge und trafen sie, wie immer, mitten ins Herz. So deutlich konnte sie ihn noch vor sich sehen - lebendig und empfindsam und so schmerzlich jung noch, als ihn das schreckliche Ende getroffen hatte. Es ist doch nicht unsere Bestimmung, unsere Kinder zu überleben, dachte sie. Nicht Alec. Nicht jetzt. Sie hatte ihren Sohn geliebt, aber indem Stuart die Erinnerung an ihn heraufbeschwor - die immer noch offene Wunde berührte -, gelang es ihm jedesmal, einem unerfreulichen Gespräch ein Ende zu setzen. Es war ihm zur Taktik geworden, und es klappte stets. Aber heute abend nicht.
»Ja, sie weiß von Geoffrey. Aber sie weiß nicht alles. Sie hörte die Auseinandersetzung an jenem Abend, Stuart.
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