Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
störend und unwillkommen sein. Aber er mußte sie sprechen. Und er machte sich über den Grund seines Besuchs nichts vor. Mit seiner Arbeit als Polizeibeamter hatte es nichts zu tun. Er klopfte einmal, sperrte auf und trat ein.
    Helen war auf, kam durchs Zimmer zur Tür, blieb jedoch abrupt stehen, als sie ihn sah. Er schloß die Tür. Zunächst sagte er kein Wort, nahm nur die Details wahr und versuchte zu begreifen, was sie zu bedeuten hatten.
    Ihr Bett war unberührt, die gelbweiße Tagesdecke bis über das Kopfkissen hochgezogen. Ihre Schuhe, schmale schwarze Pumps, standen daneben auf dem Boden. Sie waren das einzige, was sie abgelegt hatte, außer ihrem Schmuck: Goldene Ohrringe, ein dünnes Kettchen und ein filigranes Armband lagen auf dem Nachttisch. Sonst war nichts zu bemerken in diesem Zimmer, das ähnlich den anderen mit einem Schrank, zwei Sesseln und einem Toilettentisch möbliert war, in dessen Spiegel sie beide zu sehen waren, vorsichtig abwartend wie zwe!Feinde, die unerwartet aufeinandergestoßen sind und weder die Kraft noch den Willen besitzen, sich erneut zu schlagen.
    Lynley ging an ihr vorbei zum Fenster. Der Westflügel des Hauses lag langgestreckt in der Finsternis, hier und dort markiert von einem schmalen Lichtschimmer, wo Vorhänge nicht ganz zugezogen waren, wo andere, wie Helen, auf den Morgen warteten. Er schloß die Vorhänge.
    »Was tust du?« Ihre Stimme war vorsichtig.
    »Es ist viel zu kalt hier, Helen.« Er berührte den Heizkörper, der nur lauwarm war, und ging zur Tür hinaus, um mit dem jungen Constable zu sprechen, der am Ende der Treppe postiert war. »Würden Sie mal nachsehen, ob es irgendwo einen elektrischen Heizofen gibt?« fragte er ihn.
    Als der Mann nickte, schloß er die Tür wieder und drehte sich Helen zu. Der Abstand zwischen ihnen schien ungeheuer groß. Feindseligkeit lag dumpf in der Luft.
    »Warum hast du mich hier eingesperrt, Tommy? Glaubst du, ich könnte jemandem etwas antun?«
    »Natürlich nicht. Alle sind eingeschlossen. Morgen ist es vorbei.«
    Auf dem Boden neben einem der Sessel lag ein Buch. Lynley hob es auf. Es war ein Kriminalroman, wie er sah, mit Helens typischen, eigenwilligen Anmerkungen am Seitenrand: Pfeile und Ausrufezeichen, Unterstreichungen und kurze Kommentare. Sie war immer wild entschlossen, jedem Autor nachzuweisen, daß er sie nicht an der Nase herumführen, daß sie jedes auch noch so verzwickte Rätsel vor ihm lösen konnte. Lynley bekam seit bald zehn Jahren getreulich all ihre eselsohrigen Krimis geschenkt. »Lies das, Tommy, mein Schatz. Du kommst nie dahinter.«
    Die Erinnerung besaß eine solche Kraft, daß der Schmerz ihn schüttelte. Er fühlte sich untröstbar und zutiefst allein. Und das, was er ihr zu sagen gekommen war, würde die Situation zwischen ihnen nur verschlimmern. Aber er wußte, daß er mit ihr sprechen mußte, koste es, was es wolle.
    »Helen, ich kann nicht mitansehen, was du dir antust. Du versuchst deine Geschichte mit St. James neu aufzurollen und zu einem anderen Ende zu bringen. Ich kann das nicht zulassen.«
    »Ich weiß nicht, wovon du redest. Das alles hat mit Simon nichts zu tun.« Helen blieb stehen, wo sie war, auf der anderen Seite des Zimmers, weit entfernt von ihm.
    Lynley glaubte, an ihrem Hals, dort, wo der Kragen ihrer Bluse sich rundete, einen kleinen Fleck zu sehen. Aber als sie den Kopf bewegte, verschwand der Fleck, eine Täuschung, Produkt seiner unglücklichen Phantasie.
    »Doch«, widersprach er. »Oder ist dir nicht aufgefallen, wie ähnlich er St. James ist? Bis zu seinem Leiden hin, nur ist es bei ihm eben Alkoholismus, und du wirst ihn diesmal nicht im Stich lassen, nicht wahr? Du wirst nicht dankbar gehen, wenn er dich wegschicken will.«
    Helen wandte sich von ihm ab. Sie öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Er sah, daß sie bereit war, ihm diese Momente der Züchtigung zuzugestehen, ohne sich zu wehren. Seine Strafe würde darin bestehen, niemals zu wissen, niemals wirklich zu begreifen, was sie zu Davies-Jones hingezogen hatte, sich mit Vermutungen begnügen zu müssen, die sie niemals bestätigen würde. Dennoch wünschte er sich, sie berühren zu können, nur einen Augenblick lang ihre Wärme spüren zu dürfen.
    »Ich kenne dich, Helen. Und ich weiß, was Schuld ist. Wer könnte es besser wissen als ich? Ich trage die Schuld daran, daß St. James heute kein gesunder Mensch mehr ist. Aber du glaubtest immer, dein Vergehen sei das schlimmere, nicht wahr? Weil du

Weitere Kostenlose Bücher