02 - Keiner werfe den ersten Stein
glatt getrampelt. Es sind nur ungefähr sechzig Meter.«
»Was haben Sie denn dort gefunden?« fragte Helen.
»Ein Grab«, antwortete Barbara.
Südlich des Wegs, der um das Gutshaus herumführte, war Wald angepflanzt worden. Bäume wären in dieser kargen Moorgegend Schottlands nicht von selbst gewachsen: Eichen, Buchen und Walnußbäume mit Fichten und Föhren gemischt. Ein schmaler Pfad, dessen Lauf durch gelbe Kreise an den Baumstämmen gekennzeichnet war, führte zwischen ihnen hindurch.
Der schwere, feuchte Schnee hüllte den Wald in eine tiefe Stille. Kein Windhauch regte sich, und wenn hin und wieder das Brummen eines Motors in der Ferne zu hören war, so verklang es rasch, und nichts blieb danach als das rastlose Plätschern des Wassers, das zu ihrer Linken vom etwa zwanzig Meter hangabwärts gelegenen Loch heraufdrang. Es war nicht leicht, vorwärts zu kommen, trotz des primitiven Pfads, den Barbara getreten hatte. Der Schnee war tief, der Boden weich und uneben, schwer zu bewältigen für einen Mann, der auf glatte!trockenen Boden Mühe genug hatte.
Sie brauchten eine Viertelstunde für eine Strecke, die Barbara alleine in vier Minuten zurückgelegt hatte, und obwohl Helen St. James stützte, war sein Gesicht von der Anstrengung gekennzeichnet, als Barbara sie endlich vom Hauptweg auf eine Abzweigung führte, die unter den Bäumen hindurch sachte zu einer kleinen Anhöhe anstieg. Im Sommer hätte dichtes Laub wahrscheinlich sowohl den kleinen Hügel als auch den Fußpfad verborgen. Jetzt aber waren Büsche und Bäume kahl und gaben den Zugang zu dem Hügel frei. Es war ein Fleck von vielleicht fünfzig Quadratmetern, von einem rostigen Eisengitter eingefaßt.
»Das sieht ja aus wie ein kleiner Friedhof«, sagte Helen.
»Ist hier in der Nähe eine Kirche?«
Barbara wies nach Süden. »Ein Stück weiter am Hauptweg sind eine Kapelle und eine Familiengruft. Und gleich darunter, am Loch, ist ein alter Bootssteg. Sie sind anscheinend mit Booten zu ihren Beerdigungen gefahren.«
»Wie die Wikinger«, bemerkte St. James zerstreut. »Und was ist das hier, Barbara?« Er stieß das eiserne Törchen auf und blickte auf die Fußspuren im Schnee.
»Das war ich«, erklärte Barbara. »Ich war schon bei der Kapelle gewesen und hatte mich dort umgesehen. Als ich dann auf dem Rückweg das hier entdeckte, wurde ich neugierig. Sehen Sie es sich selbst an. Sagen Sie mir, was Sie davon halten.«
Während Barbara am Tor wartete, gingen St. James und Helen durch den knirschenden Schnee langsam zu dem Grabstein hinauf, der wie ein einsamer grauer Wachposten unter einer ausladenden, kahlen Ulme stand. Es war kein sehr alter Stein, gewiß nicht so alt wie jene in den zahllosen langsam verfallenden Friedhöfen des Landes. Doch er war ebenso verlassen. Flechten hatten sich in den wenigen eingemeißelte!Worten festgesetzt, und St. James vermutete, daß das Grab selbst im Sommer wahrscheinlich von Pferdekümmel und anderem Unkraut überwuchert war. Die Worte auf dem Stein waren noch gut zu lesen, nur wenig angegriffen von der Witterung.
Geoffrey Rintoul, Viscount Corleagh 1914-1963
Stumm betrachteten sie das einsame Grab. Schnee löste sich von einem der Äste darüber und stob auf dem Stein auseinander.
»Ist das Lord Stinhursts älterer Bruder?« fragte Helen.
»Sieht so aus«, antwortete Barbara. »Sonderbar, finden Sie nicht?«
»Warum?« St. James' Blick schweifte über das kleine Stück Land, auf der Suche nach anderen Gräbern. Umsonst.
»Weil der Sitz der Familie in Somerset ist«, antwortete Barbara.
»Das ist richtig.« St. James wußte, daß Barbara Havers ihn nicht aus den Augen ließ, daß sie von seinem Gesicht abzulesen versuchte, was Lynley ihm über sein Gespräch mit Stinhurst berichtet hatte.
»Wieso ist Geoffrey dann hier begraben?« fragte sie.
»Warum liegt er nicht in Somerset?«
»Ich glaube, er ist hier gestorben«, antwortete St. James.
»Sie wissen doch besser als ich, daß der alte Adel seine Angehörigen in der Familiengruft bestattet, Simon. Warum wurde Geoffrey Rintoul nicht nach Somerset gebracht? Oder«, fuhr sie fort, ehe er etwas sagen konnte, »falls Sie jetzt sagen wollen, daß das vielleicht nicht möglich war, warum wurde er nicht im Familiengrab der Gerrards bestattet, das nur ein paar hundert Meter weiter ist?«
St. James setzte seine Worte vorsichtig. »Vielleicht war das hier ein Lieblingsplatz von ihm, Barbara. Es ist ein sehr friedlicher Ort und im Sommer sicher sehr
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