02 - Keiner werfe den ersten Stein
damals tief im Innern erleichtert warst, als er eure Verlobung löste. Weil du nicht mehr einem Leben an der Seite eines Mannes ins Auge sehen mußtest, der all jene Dinge, die damals so ungeheuer wichtig erschienen, nicht mehr würde tun können. Skilaufen, schwimmen, tanzen, wandern, sich amüsieren.«
»Hör auf!« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Als sie ihn ansah, war ihr Gesicht weiß. Es war eine Warnung. Er ignorierte sie. Er mußte einfach weitersprechen.
»Zehn Jahre lang hast du dich dafür geprügelt, St. James verlassen zu haben. Und jetzt siehst du eine Chance, alles wiedergutzumachen: daß du ihn allein zur Rekonvaleszenz in die Schweiz fahren ließest, daß du flohst, als er dich brauchte; daß du vor einer Ehe zurückschrecktest, die ein hohes Maß an Verantwortung und Pflichtgefühl von dir verlangt hätte. Davies-Jones soll dir die Erlösung bringen, nicht wahr? Du willst ihn retten, so wie du glaubst, du hättest St. James retten können. Und dann kannst du dir selbst endlich verzeihen. So ist es doch, nicht wahr?«
»Es reicht«, sagte sie starr.
»Das finde ich nicht.« Lynley suchte nach Worten, die ihren Panzer durchdringen würden. »Wenn man ein bißchen tiefer schürft, hat er nämlich gar nichts mit St. James gemeinsam. Bitte, hör mich an, Helen. Du kennst Davies-Jones noch nicht lange. Er ist nicht wie St. James ein Mann, den du seit deinem achtzehnten Geburtstag kennst, beinahe so gut wie dich selbst. Er ist dir noch immer relativ fremd, du kannst ihn gar nicht wirklich kennen.«
»Ein Mörder, meinst du?«
»Ja. Wenn du willst.«
Sie zuckte vor der Leichtigkeit seiner Antwort zurück, doch innere Leidenschaft gab ihr Kraft. Gesicht und Hals spannten sich.
»Und ich bin zu blind vor Liebe oder Reue oder Schuldgefühl oder sonst was, um zu erkennen, was dir klar ist?«
Mit einer heftigen Bewegung, die alles einschloß, das Haus, ihr früheres Zimmer und das, was darin geschehen war, wies sie zur Tür. »Kannst du mir vielleicht sagen, wann er diesen Mord inszeniert haben soll? Er ist gleich nach der Lesung aus dem Haus gegangen und kam erst um eins zurück.«
»Seiner eigenen Behauptung zufolge.«
»Du sagst, er habe mich belogen, Tommy. Aber ich weiß, daß er das nicht getan hat. Ich weiß, daß er lange Wanderungen macht, wenn er das Verlangen hat zu trinken. Das hat er mir schon in London erzählt. Ich bin sogar mit ihm zum Loch hinuntergegangen, nachdem er den Streit zwischen Joy Sinclair und Gabriel gestern nachmittag abgebrochen hatte.«
»Und du siehst nicht, wie schlau das war? Daß das alles nur inszeniert wurde, damit du ihm glauben würdest, wenn er später behauptete, auch nach der Lesung spazieren gewesen zu sein? Er brauchte deine Anteilnahme, Helen, damit du ihm gestatten würdest, in deinem Zimmer zu bleiben. Hätte er sich etwas Besseres ausdenken können, um sie zu bekommen, als zu sagen, er wäre draußen herumgelaufen, um seine Sucht zu bekämpfen.«
»Du verlangst von mir allen Ernstes zu glauben, daß Rhys seine Cousine tötete, während ich nebenan schlief, und dann in mein Zimmer zurückkam und sich in mein Bett legte? Das ist absurd.«
»Wieso?«
»Weil ich ihn kenne.«
»Du hast mit ihm geschlafen, Helen. Ich denke, du stimmst mit mir darin überein, daß weit mehr dazu gehört, einen Mann zu kennen, als ein paar heiße Stunden mit ihm im Bett zu verbringen, mögen sie auch noch so angenehm sein.«
Ihre dunklen Augen verrieten, wie sehr er sie verletzt hatte. Als sie wieder sprach, war ihr Ton voller Ironie. »Du weißt deine Worte zu wählen. Gratuliere. Sie tun weh.«
»Ich will dir nicht weh tun, und ich möchte verhindern, daß dir weh getan wird! Kannst du das denn nicht verstehen? Siehst du nicht, daß ich dir Kummer ersparen will? Was geschehen ist, tut mir leid. Wie ich mich dir gegenüber verhalten habe, tut mir leid. Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Davies-Jones benützte dich, um sich zu ihrem Zimmer Zugang zu verschaffen. Und er benützte dich ein zweites Mal, nachdem er heute morgen Gowan getötet hatte. Und er wird dich weiter benützen. Aber das werde ich nicht zulassen. Ich werde es verhindern, ob du mir dabei hilfst oder nicht.«
Sie griff sich an den Hals. »Ich dir helfen? Lieber Gott, lieber sterbe ich.«
Ihre Worte und die Bitterkeit ihres Tons trafen Lynley wie ein Schlag. Er hätte vielleicht geantwortet, doch er wurde einer Antwort durch den Constable enthoben, dem es gelungen war, einen kleinen Heizlüfter
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