02 - komplett
besonders anfällig für Erkältungen.“ Die stolze Mama strahlte. „Aber er ist einfach ein entzückender kleiner Schatz und seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Manchmal glaube ich, dass ich vor lauter Liebe sterben muss.“
Während Sarah von ihrem Sohn schwärmte, hakte Ruth sie unter und führte sie in den Salon, wo sie es sich vor dem prasselnden Kaminfeuer bequem machten. Kalte Winde pfiffen durch die Ritzen und blähten die Gardinen.
Ruth nahm die Kanne von dem Teetablett, das auf einem niedrigen Tischchen bereitstand, und schenkte das dampfende Getränk ein. Gleichzeitig setzten die Freundinnen ihr Gespräch fort und fanden mühelos wieder zu dem alten, vertrauten Ton zurück. Es war, als wären sie nicht über viele Monate hinweg getrennt gewesen.
Ein zufälliger Beobachter hätte sie für Schwestern halten können.
„Wie lange bleibt ihr auf Willowdene Manor?“
„Bis Herbst, genauer gesagt Michaeli ... jedenfalls, wenn es nach mir geht“, antwortete Sarah mit einem Zwinkern.
Ruth zog eine Augenbraue hoch. „Und ich vermute, dass es meistens nach dir geht.“
Sie seufzte theatralisch. „Armer Gavin!“
„Ja, ja, der Arme!“ Sarah lächelte, als sie an ihren geliebten Mann dachte. „Aber so bin ich nun einmal und war es schon immer, wie du weißt ...“
Schweigen senkte sich über den Salon, als beide Frauen in die Flammen blickten und an die Ereignisse des vergangenen Jahres dachten. Noch vor zwölf Monaten hatte Sarah, damals noch Miss Marchant, im Ort Willowdene als leichtlebige Person gegolten, weil sie unverheiratet mit ihrem Geliebten zusammenlebte. Nach seinem überraschenden Tod drohten ihr Armut und Elend, doch dann begegnete sie Gavin Stone, dem neuen Herrn auf Willowdene Manor. Sie verliebte sich in ihn, ihre Liebe wurde erwidert, und wenige Monate nach der Hochzeit war sie mit ihm als Viscountess Tremayne auf seinen Herrensitz in Surrey gezogen.
Sarah verkehrte nun in höchsten Kreisen, war verheiratet und Mutter eines kleinen Sohnes, während Ruth nach wie vor in bescheidenen Verhältnissen in Willowdene lebte. Gesellschaftlich trennte eine tiefe Kluft die beiden Frauen, aber Ruth neidete der Freundin das Glück nicht.
„Ich wusste, dass du mit Gavin die richtige Wahl getroffen hast“, bemerkte Ruth zufrieden. „Dieses ganze dumme Gerede über seine angeblichen Ausschweifungen –
das war doch nichts als Wichtigtuerei.“
„Nicht ganz“, widersprach Sarah. „Aber Gavin sagt, dass er inzwischen zu viel Verantwortung trägt, um sich noch irgendwelchen Ausschweifungen hinzugeben.
Das überlässt er seinem Freund Sir Clayton Powell. Nach allem, was man hört, hat er in ihm einen würdigen Nachfolger gefunden.“
Ruth senkte die Teetasse und neigte den Kopf zur Seite. „Sir Clayton Powell? Das war doch Gavins Freund, der letztes Jahr eine Weile hier zu Besuch weilte.“
„Ja, das stimmt. Wäre es schlimm, wenn du ihn bald wiedersehen würdest?“ Sarah erinnerte sich noch gut daran, dass Ruth dem Freund Lord Tremaynes eher reserviert begegnet war. „Abgesehen davon, dass ich dich besuchen wollte, sind wir nämlich auch deshalb nach Willowdene gekommen, um James in der Kapelle von Willowdene Manor taufen zu lassen. Und wir möchten dich herzlich bitten, seine Patin zu werden. Bitte sag Ja!“
„Mit dem größten Vergnügen: ja.“ Ruths Stimme klang plötzlich belegt, und Freudentränen traten ihr in die Augen.
„Wunderbar! Clayton soll der andere Pate werden. Jedenfalls besteht Gavin darauf, dass wir ihn fragen. Er sagt, unter der Fassade des Lebemannes schlägt ein Herz aus reinem Gold. Anscheinend kann man sich darauf verlassen, dass Clayton seine Verantwortung ernst nimmt. Er kommt sogar für die Schulbildung seines Neffen auf, der einmal sein Erbe antreten wird. Seine eigene Ehe ist kinderlos geblieben.“
„Er ist verheiratet?“, erkundigte Ruth sich belustigt. „Und dann gibt er sich den Vergnügungen des Großstadtlebens hin, als sei er ledig?“
„Nein, nein – er war verheiratet.“ Sarah beugte sich vertraulich vor. „Soweit ich weiß, ist das aber schon lange her – eine mésalliance , die lediglich ein Jahr währte. Seine Gattin Priscilla ist ihm zuerst nach allen Regeln der Kunst auf der Nase herumgetanzt, um dann mit einem ausländischen Grafen durchzubrennen. Die genauen Einzelheiten kenne ich nicht, aber die Ehe wurde jedenfalls annulliert. Bei Clayton hat das zur Verbitterung geführt, und er hat sich geschworen, nie wieder zu
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