02 - komplett
gezwungen hatte, aus London zu fliehen, ließen sie immer noch innerlich zusammenzucken.
Der Sonntag bot eine willkommene Atempause von der schweren Hausarbeit, den Gedanken an Lord Buckland und den unheimlichen Geschichten über das Haus.
Sie kamen rechtzeitig zum Gottesdienst, wo Hester von einem Kirchendiener begrüßt wurde. „Hier entlang, Miss Lattimer, das ist die Kirchenbank für die Bewohner von Moon House.“
Und tatsächlich entdeckte sie an der Tür zum Kirchenstuhl eine ins Holz eingeschnitzte Mondsichel. Unauffällig ließ Hester den Blick über die anwesende Gemeinde schweifen, die inzwischen fast vollzählig eingetroffen war. In einer der vorderen Reihen bemerkte sie eine Frau, deren Gesicht gänzlich von dem dichten Schleier ihres schwarzen Hutes verdeckt wurde. Neben ihr saß ein Gentleman mit sehr dunklem, fast schwarzem Haar. Wahrscheinlich handelte es sich um die Geschwister Nugent. Auf der anderen Seite erhaschte sie einen Blick auf einen blonden Herrn, den sie überall wiedererkannt hätte – Seine Lordschaft besuchte also pflichtbewusst den Gottesdienst. Hester spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte, und verstärkte unwillkürlich den Griff um ihr Gebetbuch. Wie unziemlich, sich ausgerechnet unter diesen Umständen von dem Anblick eines Mannes so aus der Fassung bringen zu lassen.
Nach der Messe wartete Hester, den Blick sittsam auf ihr Buch geheftet, bis sich die vorderen Reihen geleert hatten. Erst dann verließ sie ihren Kirchenstuhl und atmete erleichtert auf, als nichts von einem bestimmten Gentleman zu sehen war.
Auf dem Heimweg über die Gemeindewiese teilte sie Maria ihren Entschluss mit, neue Kissen für den Betschemel zu besticken, da die alten in kläglichem Zustand waren. Eine sehr angemessene Beschäftigung für eine junge Dame, dachte sie in leisem Selbsttadel, sehr viel angemessener als alles, womit du dich in letzter Zeit beschäftigt hast.
6. KAPITEL
„Ich werde mich einem wahren Strudel der Geselligkeit hingeben“, sagte Hester mit gespielter Gelassenheit zu Susan, während sie sich am folgenden Tag in ihrem Schlafgemach für den Abend beim Earl vorbereitete. „Ich habe ganz vergessen zu erwähnen, dass die Frau des Vikars mich am Mittwochabend zu einem Damenkränzchen eingeladen hat. Seltsamerweise graut mir vor dem Beisammensein mit den Damen viel mehr als vor dem heutigen Abend.“
„Das ist gar nicht so seltsam.“ Susan prüfte das Abendkleid aus blassrosa Seide mit großer Aufmerksamkeit, zupfte dann ein wenig am Saum und fügte hinzu:
„Immerhin sind Sie die Gesellschaft von Gentlemen viel mehr gewohnt, nicht wahr, Miss Hester?“
„Ja, das mag sein“, gab Hester zu, „allerdings möchte ich auf keinen Fall diesen Eindruck erwecken. Vielen Dank, Susan, es sieht sehr schön aus. Könntest du bitte nachschauen, ob Maria deine Hilfe beim Frisieren braucht?“
Jethro hatte das Kommen und Gehen auf der anderen Seite der Straße im Auge behalten und rief schließlich vom Fuß der Treppe herauf: „Mr. und Mrs. Bunting sind angekommen und noch eine Dame und ein Gentleman, die ich nicht kenne.“
Es war zehn nach sieben, und Hester beschloss, sich auf den Weg zu machen. Zwar hatte sie vermeiden wollen, der erste Gast zu sein, andererseits gedachte sie nicht, zu spät zu kommen und damit womöglich den Eindruck zu erwecken, sie wolle Aufsehen erregen.
Sie ging an Miss Prudhomes Seite die Treppe hinunter, Susan dicht hinter sich, die verzweifelt versuchte, das aufgesteckte Haar ihrer Herrin zu bändigen. „Ach, halten Sie doch ganz kurz still, Miss Hester! So, das sollte halten“, sagte sie zweifelnd. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. „Sehr hübsch, Miss Hester. Wurde aber auch Zeit, dass Sie sich mal wieder schick machen.“ Susan band noch die Bänder des schweren Winterumhangs fest und drängte sie zur Tür.
„Amüsieren Sie sich gut.“ Mit einem Blick auf Jethro fügte sie noch hinzu: „Wir haben uns gefragt, Miss Hester ...“
„Ihr wollt auch ausgehen, nicht wahr? Aber natürlich. Wohin soll es gehen?“
„Nur ins ‚Bird in Hand‘. Es gibt dahinter eine Kegelbahn.“
„Und eine Mannschaft aus dem Dorf, die gegen das Nachbardorf antreten wird“, warf Jethro ein. „Da ich so geschickt im Kegeln bin, dachte ich, ich könnte vielleicht mein Glück versuchen.“
Hester verkniff sich die Bemerkung, dass das Kegeln im örtlichen Dorfgasthof sich wohl kaum mit der Würde eines Butlers vereinbaren
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