02 - komplett
hätte sie aufgestöhnt. Sie hätte sich denken können, dass Sarah es sich nicht verkneifen könnte, mit einer bissigen Bemerkung auf den Zwischenfall in der Bibliothek anzuspielen.
„Was meinen Sie, Mrs. Hayden?“, erkundigte sich Clayton. Es schien ihn vollkommen ungerührt zu lassen, dass er Gegenstand des Gesprächs zwischen den Freundinnen gewesen war. „Sollen wir uns ein Gefecht mit kalten Geschossen liefern?“
„Oh, ich befürchte, in diesem Kampf würde ich den Kürzeren ziehen“, entgegnete Ruth. „Schließlich haben Sie mir Militärerfahrung voraus.“
„Habe ich Ihnen das erzählt?“, fragte Clayton überrascht.
„Äh ... ja.“ Ruth sah verlegen beiseite. Warum nur hatte sie davon angefangen? Ganz offensichtlich hatte er vergessen, was er bei ihrer ersten Begegnung erwähnt hatte: dass er ihren Schwiegervater Colonel Walter Hayden aus seinen Armeetagen kannte.
Nun hatte sie unbedacht das Gespräch erneut auf ihren verstorbenen Mann Paul Hayden gelenkt, über den sie ganz sicher nicht sprechen wollte.
„Wir könnten einen Schneemann bauen“, mischte sich Sarah ein, um ihrer Freundin aus der Verlegenheit zu helfen. Sie wusste ganz genau, wie sehr Ruth daran gelegen war, das Thema ihrer Ehe zu vermeiden. Niemand sollte Gelegenheit bekommen, unangenehme Fragen über das Ableben ihres Mannes zu stellen. „Jedenfalls, sofern es nicht zu tauen beginnt. Es wäre zu schade, einen Schneemann zu bauen, der sich kurz darauf bereits wieder in Wohlgefallen auflöst.“
Ruth warf ihr ein dankbares Lächeln zu. „Trotzdem hoffe ich auf Tauwetter“, bemerkte sie leichthin. „Dann muss Sir Clayton nicht auf seinen morgendlichen Ausritt verzichten.“
„Den Ausritt nach London?“, fragte Clayton, ohne Ruth aus den Augen zu lassen.
„Wenn Sie das wünschen, Sir.“ Sie hielt seinem Blick stand.
„Und was wünschen Sie, Mrs. Hayden?“
„Ach, lasst uns Karten spielen“, mischte Sarah sich erneut ein. „Ruth und ich sind gute Pikett-Spielerinnen, also spielen wir zusammen, um euch Gentlemen zu schlagen. Und die Verlierer müssen ... ach, das legen wir später fest.“ Beinahe hätte sie den Faden verloren, als sie den sinnlichen Blick ihres Mannes auffing.
Am nächsten Morgen erhob Ruth sich zeitig, obwohl sie gerne noch länger in ihrem warmen, weichen Bett gelegen hätte. Mit nackten Füßen angelte sie nach den Satinpantoffeln, die Sarah ihr geliehen hatte, zog den ebenfalls geborgten Morgenrock enger um sich und trat ans Fenster.
Als sie die schweren Samtvorhänge beiseitezog, bot sich ihren noch müden Augen ein erstaunlicher Anblick. Wie hingetupft hingen kleine weiße Wölkchen am blauen Himmel, und die Sonne beschien eine Zauberwelt in strahlendem Weiß. Bäume, Sträucher und Hecken waren mit einer dicken Schneeschicht überzuckert, und wann immer die leichte Brise einen Kristall hinunterwehte, funkelte er in den Sonnenstrahlen wie ein Diamant. Trotz der Enttäuschung darüber, dass der hohe Schnee selbst die kurze Fahrt nach Fernlea schier unmöglich machte, konnte Ruth nicht umhin, über das Wunder zu staunen. Beinahe wünschte sie sich, malen oder zeichnen zu können, um den zauberhaften Anblick festzuhalten.
Entschlossen drehte sie sich um und ging zum Waschtisch. Das Wasser im Krug war zwar kalt, wie sie feststellte, aber erträglich. Im Kamin hatte die ganze Nacht über ein Feuer gebrannt, dessen Glut erst jetzt in sich zusammenfiel. Ruth goss Wasser in die Schüssel und wusch sich mit der duftenden Seife, die Sarah ihr gegeben hatte.
Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, schlüpfte sie schnell in ihr Kleid. Obwohl sie wusste, dass Sarah ihr früher oder später ihre Zofe herüberschicken würde, damit diese ihr beim Ankleiden half, wollte sie nicht warten. Vermutlich rechnete niemand damit, dass sie sich vor zehn erhob. Als sie fertig war, sah sie skeptisch an sich hinab: Die silbergraue Seidenrobe war zwar vollkommen unpassend für die Tageszeit, aber fürs Erste musste sie genügen. Ruth hoffte inständig, am Nachmittag wieder in ihr Cottage zurückkehren zu können.
Gewaschen, angekleidet und notdürftig frisiert, hätte sie eigentlich hinuntergehen können. Aber sie zögerte. Ob es noch zu früh war? Eigentlich hätte sie keine Hemmungen verspüren dürfen, denn die Tremaynes behandelten sie wie ein Mitglied der Familie, das sich frei im Haus bewegen konnte. Aber sie musste damit rechnen, dass Sarah und Gavin das Bett noch nicht verlassen hatten, während ihr
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