02 - komplett
lassen. Am liebsten hätte sie ihn heftig dafür gescholten, dass er ihre angebliche musikalische Begabung angesprochen hatte. Aber vermutlich hatte er damit genau das beabsichtigt. Deshalb schluckte sie den Vorwurf hinunter und folgte den Gastgebern schweigend ins Speisezimmer.
Mehrere Gänge und etliche Gläser Rotwein später hatte Ruth so weit ihre Fassung zurückgewonnen, dass sie Sir Clayton wieder in die Augen sehen konnte. Während sie das ausgezeichnete Essen genossen, spürte sie mehrmals, wie sein Blick auf ihr ruhte. Wenn er sie ansprach, entdeckte sie in seiner Stimme keine Spur von Spott oder Ironie. Offenbar hatte er sich bemüht, seine Arroganz und die aufbrausende Art in der Bibliothek zurückzulassen.
Sarah und Gavin erwiesen sich als wunderbare Gastgeber, und das Gespräch floss heiter und mühelos dahin. Nachdem sie sich ausführlich über Neuigkeiten aus London unterhalten hatten, wandte sich das Gespräch näher liegenden Themen zu.
Sir Clayton erkundigte sich bei den Tremaynes, wie sich der Schnee wohl auf das Dorf auswirkte. Waren die Bewohner mit allem Notwendigen versorgt? Konnten sie weiter ihren Geschäften nachgehen?
Wie er Ruth erklärte, lag sein eigener Landsitz weit im Südwesten, wo die Winter selten hart und schneereich seien. Zudem halte er sich selten dort auf, da er dem Stadtleben mehr abgewinnen könne. Deshalb sei er noch nie von derartigen Schneeverhältnissen überrascht worden.
Ruth konnte nicht anders, als das Wetter insgeheim gleichzeitig zu preisen und zu verwünschen: Zwar bot es genügend unverfänglichen Gesprächsstoff, aber es hielt sie auch in diesem Haus gefangen.
„Werden wir Sie während der Saison in der Hauptstadt begrüßen dürfen, Mrs.
Hayden?“
Ruth ließ den Löffel sinken und sah Sir Clayton überrascht an. Eine solche Frage hatte sie nicht erwartet. „Nein. Seit ich debütiert habe, bin ich nicht mehr in London gewesen.“
„Wo haben Sie denn dort gewohnt, wenn ich fragen darf?“
„In der Nähe von Chelsea, in der Willoughby Street.“ Den Blick geflissentlich auf den Nachtisch gesenkt, führte Ruth einen Löffel Weincreme zum Mund.
„Ach, die Gegend kenne ich“, bemerkte Clayton. „Keith Storey, einer meiner guten Freunde, wohnte dort bis zu seiner Heirat bei seinen Eltern.“
Unwillkürlich musste Ruth lächeln. „Ja, ich kenne Mr. und Mrs. Storey. Meine Eltern waren gut mit ihnen befreundet.“
„Sind Sie denn gleich nach ihrem Debüt aufs Land gezogen?“
„Nein.“ Erneut legte Ruth den Löffel hin. Seine Fragen irritierten sie. Wie kam es, dass er sich so für ihre Vergangenheit interessierte, bei der ersten Gegenfrage nach der seinen aber ungehalten reagierte? „Nachdem ich geheiratet habe, sind meine Eltern nach Fernlea gezogen. Ich kam vor neun Jahren in diese Gegend, um mich um meinen Vater zu kümmern, der damals frisch verwitwet war.“
Damit wandte Ruth sich an Sarah und sprach den ersten Gedanken aus, der ihr in den Sinn kam. „Der kleine James hatte vorhin etwas Bauchschmerzen. Vermutlich hat ihm eine Kolik zu schaffen gemacht.“
„Das kommt manchmal vor“, antwortete die Freundin. Sie ging sofort auf Ruths Versuch ein, das Thema zu wechseln, damit die Sprache nicht auf ihren verstorbenen Ehemann und womöglich sogar auf die genauen Umstände seines Todes kam.
„Meine Haushälterin Mrs. Plover kennt ein Mittelchen dagegen. Man muss ihm lediglich einen kleinen Löffel davon einflößen, und schon verschwinden die Krämpfe.
Die Frau ist eine Perle, nicht nur, was Tees und Tränke angeht. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie täte, wenn es größere Einladungen vorzubereiten gilt.“
„Das Dinner war hervorragend“, pflichtete Ruth ihr bei, und auch von Sir Clayton kam eine gemurmelte Zustimmung.
„Wenn alle gesättigt sind – sollen wir die Gentlemen ihrem Port und den Herrengesprächen überlassen?“, schlug Sarah vor.
Dankbar lächelte Ruth sie an. Nichts war ihr lieber, als Sir Claytons Fragen zu entkommen.
„Vielleicht können wir ja noch einmal bei dem Kleinen vorbeischauen.“
Die Tür schloss sich hinter den beiden Damen, die einander an Schönheit in nichts nachstanden, obwohl die eine blond, die andere dunkel war. Kaum waren die Herren allein, als Gavin dem Freund einen scharfen Blick zuwarf. Er schenkte Port ein und reichte Clayton das Glas. „Wie ich sehe, bist du froh, gekommen zu sein.“
„Was meinst du damit?“
„Nur ein Blinder könnte übersehen, wie Mrs. Hayden dich in
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