02 - komplett
zum zweiten Mal hatte er sie dabei erwischt, wie sie ihn anstarrte wie ein schmachtender Backfisch.
Wütend über sich selbst, warf Ruth die Bürste aufs Bett und ging zur Tür. Wenigstens war die Luft jetzt rein, und sie konnte hinuntergehen und nachsehen, ob im Morgenzimmer Frühstück serviert wurde. Und wenn die Sonne weiterhin schien, durfte sie darauf hoffen, dass der Schnee bald schmolz und sie selbst nach Hause fahren konnte, bevor dieser verflixte Kerl wieder auftauchte.
„Hast du gut geschlafen?“
„Ja, danke. Das Bett war so bequem, dass ich heute Morgen gar nicht wieder aufstehen wollte.“ Ruth lächelte Sarah an, die soeben mit dem kleinen James auf dem Arm das Morgenzimmer betrat.
„Schön. Ich hatte eigens Anweisung gegeben, dir eine Wärmepfanne ins Bett zu legen und ein ordentliches Feuer im Kamin anzuzünden. Hat die Glut bis heute Morgen gehalten?“
„Ja“, bestätigte Ruth. „Ich hatte es wunderbar warm und kuschlig. Allerdings glaube ich, dass der Sherry daran auch seinen Anteil hatte.“ Sie trank selten Alkohol, sodass sie sich gegen Ende des Abends erhitzt und ein bisschen übermütig gefühlt hatte.
Ohne Ruth um ihre Einwilligung zu bitten, legte Sarah der Freundin den kleinen James in die Arme. „Ich bin halb verhungert“, erklärte sie und ging zu der Anrichte, auf der große Silberplatten mit verschiedenen Frühstücksgerichten standen. Sarah nahm sich einen Teller und häufte Rührei, Schinken, gebratene Nierchen und Toast darauf.
Ruth beobachtete sie erstaunt. Sie selbst hatte kaum mehr heruntergebracht als ein paar Bissen Toast, so satt fühlte sie sich noch von dem üppigen Dinner am Vorabend.
„Du scheinst wirklich Hunger zu haben, Sarah.“ Ruth musste lachen. „Ich frage lieber nicht zu genau nach, wie das kommt.“
Verschmitzt grinste Sarah zurück, ohne beim Essen innezuhalten. „Ich vermisse ihn so sehr, wenn wir nicht zusammen sein können.“
„Ihm geht es offenbar genauso. Mich wundert nur, dass du überhaupt schon auf den Beinen bist. Fühlst du dich denn nicht müde? Schließlich sind wir erst nach Mitternacht zu Bett gegangen.“
„Heute Nachmittag halte ich ein Nickerchen am Kamin in der Bibliothek. Gavin ist hinausgegangen, um die Schneeverhältnisse zu prüfen. Falls das Wetter es erlaubt, möchte er nach Willowdene reiten oder fahren. Er hat dort ein paar Angelegenheiten zu regeln.“
„Zum Glück sieht alles danach aus, als gäbe es Tauwetter“, bemerkte Ruth. „Die Sonne scheint jedenfalls nach Kräften.“ Das Kind auf dem Arm, erhob sie sich und ging ans Fenster, um noch einmal die zauberhafte Winterlandschaft zu betrachten.
Sarah seufzte. „Dann fährst du wohl bald nach Hause.“
„Ja“, sagte Ruth. „Ich muss. Schließlich habe ich Cissie nichts davon erzählt, dass ich über Nacht fortbleibe. Wenn die Wege passierbar sind, kommt sie sicher wie üblich vorbei, um sich um den Haushalt zu kümmern. Bestimmt sorgt sie sich zu Tode, wenn sie mich nicht im Cottage vorfindet.“
„Du könntest ihr eine Nachricht schicken.“
„Nein, ich muss heim“, wiederholte Ruth und legte James in Sarahs Arme zurück.
„Es liegt an Clayton, dass du nicht bleiben willst, nicht wahr?“
Ruth machte eine wegwerfende Geste. „Nein, es ist nicht nur das, sondern ...“
„Bereitet dir etwa noch ein gewisser anderer Gentleman Kopfzerbrechen?“
Ruth nickte nur.
„Zumindest dürfte Dr. Bryant bei diesem Wetter zögern, nach Fernlea zu fahren. Du hast also eine Weile Zeit, dir eine angemessene Antwort zu überlegen für den Fall, dass er seinen Antrag noch einmal wiederholt.“
„Oh, so habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet.“ Ruth setzte ein etwas gequältes Lächeln auf. „Jetzt weiß ich wirklich nicht, ob ich mir eher Tauwetter oder einen erneuten Schneesturm wünschen soll.“
„Wenn es nach mir geht, bekommen wir noch einmal einen Kälteeinbruch. Dann bist du gezwungen, hier zu bleiben.“
„Ob euer anderer Gast das wohl auch so sieht? Gestern sagte ich, dass ich heute auf jeden Fall heimkehre. Bestimmt kehrt Sir Clayton nachher in der Hoffnung zurück, dass ich bereits verschwunden bin.“
„Hast du ihn denn heute Morgen schon gesehen?“, erkundigte sich Sarah, während sie ihren Sohn an der Wange kitzelte, damit er sie anlächelte.
„Ja, vom Fenster aus. Er ist recht früh auf einem feurigen Rappen ausgeritten.“
„Auf Storm?“ Sarah hob die Augenbrauen. „Der Hengst hat ein teuflisches Temperament – kein
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