02 - komplett
Pferd, das man zum ersten Mal unter schwierigen Wetterbedingungen reiten sollte. Ich hoffe nur, Clayton weiß, was er tut.“ Nun sah sie besorgt aus. „Gavin ist ein ausgezeichneter Reiter, aber selbst er lässt Storm mitunter lieber im Stall, wenn der Rappe zu lebhaft wirkt.“
„Mir kam Sir Clayton vor wie ein erfahrener Reiter, der genau weiß, was er tut.“
Sofort stand Ruth wieder das Bild vor Augen, wie er sie heute Morgen ironisch gegrüßt hatte. Doch obwohl sie Sarah beruhigen wollte, verspürte sie plötzlich selbst einen Anflug von Furcht. Sie mochte den Mann noch nicht einmal, fand ihn eingebildet und hochmütig – und trotzdem hoffte sie von Herzen, dass ihm nichts zustieß. Ob er wohl eigens ausgeritten war, um ihr aus dem Weg zu gehen, bis sie nach Hause zurückkehrte? Bei dem Gedanken empfand sie Schuldgefühle.
Hoffentlich kehrte er von dem Ausritt wohlbehalten zurück.
6. KAPITEL
„Der Schnee schmilzt so schnell, dass das Wasser von den Giebeln tropft. Überall stehen Pfützen.“
Gavin, der gerade hereingekommen war, streifte sich ein paar Tropfen vom Reitrock.
„Wenn es später Frost gibt, können wir auf den Wegen Schlittschuh laufen.“ Er gab seiner Frau einen züchtigen Kuss auf die Wange, bevor er sich ebenfalls ausgiebig am Frühstücksbuffet bediente.
„Wir haben gerade darüber gesprochen, dass Clayton auf Storm ausgeritten ist. Ist das bei diesem Wetter nicht gefährlich?“, erkundigte sich Sarah.
„Ach, ich wusste gar nicht, dass er schon auf den Beinen ist.“ Doch Gavin winkte sorglos ab. „Clayton bringt jedes Tier zur Räson. Er ist ein hervorragender Reiter.“
„Wie kommt es, dass er dann so selten auf seinem Landsitz in Devon weilt?“, fragte Sarah. „Wenn er so gerne reitet, müsste er doch eigentlich häufiger hinfahren. Ist Devon nicht auch gutes Jagdgebiet?“
„Das stimmt. Vielleicht kann ich Clayton überreden, einmal eine Gesellschaft dorthin einzuladen, zum Jagen und Reiten.“
„Das wäre wunderbar!“, rief Sarah aus. „Liegt der Landsitz nicht sogar in der Nähe der Küste? Oh, wie gerne ich wieder einmal das Meer sehen würde!“
„Warst du je am Meer, Ruth?“, fragte Gavin.
„Nein.“ Es klang etwas wehmütig.
„Dann wird es höchste Zeit“, stellte Gavin fest.
Doch Ruth lächelte nur zurückhaltend. Hoffentlich schlug Gavin nicht Sir Clayton vor, dass er sie einlud, nur damit sie das Meer sehen konnte! Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Sir Clayton sie daraufhin mit kaltem Spott musterte. Bestimmt würde er glauben, ihr ginge es darum, ihn anzuschmachten, statt den Ozean zu bewundern.
Sie war entschlossener denn je, noch am selben Tag nach Hause zu fahren. „Wäre es möglich, dass der Kutscher mich am frühen Nachmittag heimbringt?“
„Natürlich, sofern die Straßen passierbar sind.“ Gavin hatte die Mahlzeit beendet und schob den leeren Teller von sich. „Allerdings bin ich mir nicht so sicher, dass das Tauwetter anhält.“
Bereits kurze Zeit später sollte sich Gavins Vermutung als richtig erweisen. Dicke graue Wolken schoben sich vor die Sonne, und die Bediensteten beeilten sich, alle Feuer im Haus zu schüren.
Ruth wusste, dass ihre Heimkehr sich noch weiter verzögern würde. Wäre Sir Clayton nicht gewesen, so hätte sie sich frohen Mutes mit ihrem Schicksal abgefunden und gerne noch mehr Zeit bei ihren guten Freunden auf Willowdene Manor verbracht. Zu Hause erwartete sie lediglich ein ausgekühltes Cottage mit fast leeren Vorratsschränken.
Mit einem Seufzer wandte Ruth sich vom Fenster ab und kehrte zu dem bequemen Sessel am Kamin zurück. Ihr gegenüber lag Sarah auf der Chaiselongue und hielt das angekündigte Nachmittagsnickerchen. Doch Ruth fühlte sich zu unruhig, um ebenfalls zu schlafen. In ihrem Kopf kreisten unablässig die Gedanken.
Ob Ian Bryant sie wohl noch einmal aufsuchen würde? Inzwischen tat es ihr leid, dass sie ihn auf so unfreundliche Weise fortgeschickt hatte, nachdem sie ihn hatte enttäuschen müssen.
Obwohl die Vorteile einer Heirat mit ihm auf der Hand lagen, schreckte sie immer noch vor dem Gedanken zurück, mit diesem Mann all ihre Tage – und Nächte – zu verbringen. Insgeheim schalt sie sich dafür, dass sie sich weiterhin nach Romantik sehnte, statt sich mit einem angenehmen, zufriedenen Leben zu zweit zu bescheiden. Träume von Märchenprinzen waren gut und schön, aber sie musste sich der Wirklichkeit stellen. Und in dieser Wirklichkeit schmolz das geringe Erbe, das
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