02 - komplett
seinen ersten Geburtstag gefeiert.“
Gavin nickte und entschuldigte sich.
Sobald er gegangen war, versuchte Ruth, an das unverfängliche Gespräch anzuknüpfen. „Die arme Köchin! Sie hält das Essen nun schon seit Stunden warm.
Aber bestimmt ist auch die Dienerschaft erleichtert, dass es James besser geht. Der Kleine ...“
„Ich wusste gar nicht, dass Sie die Tremaynes so gut kennen.“ Sofern Dr. Bryant überhaupt bemerkt hatte, dass sie persönliche Themen vermeiden wollte, kümmerte es ihn jedenfalls wenig.
Ruth runzelte die Stirn, antwortete aber: „Sarah ... das heißt, Lady Tremayne ... und ich sind eng befreundet. Vor ihrer Heirat mit dem Viscount lebte sie in Willowdene.“
„Ich weiß.“ Dr. Bryants Stimme wurde schärfer. „Miss Sarah Marchant konnte sich glücklich schätzen, einen Adligen zu erbeuten und aus ihrer bescheidenen Hütte in dieses Herrenhaus umzuziehen. Insbesondere, wenn man ihre ... eher unglücklichen Lebensumstände vor der Ehe bedenkt.“
Überrascht nahm Ruth die Geringschätzung wahr, mit der er über ihre Freundin sprach. Es stimmte, noch vor einem Jahr hatten viele ehrbare Bürger von Willowdene auf Sarah Marchant, die gefallene Frau, herabgeblickt. Aber die meisten schienen der Meinung zu sein, dass sie ihre Ehre durch die Heirat mit einem Adligen wiederhergestellt hatte. „Ich weiß, dass der Viscount sich glücklich schätzt, eine so wunderbare Frau an seiner Seite zu haben.“
Obwohl sie angesichts seiner Verachtung einen Schritt zurückgetreten war, bemühte sie sich weiterhin, das Gespräch in Gang zu halten. „Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie dem kleinen James helfen konnten.“
Einen Augenblick lang sah Dr. Bryant sie nur stumm an, als müsste er erst entscheiden, ob er diesmal auf ihr Ablenkungsmanöver eingehen wollte. Dann leerte er sein Cognacglas in einem Zug, füllte es gleich wieder nach und fragte unvermittelt: „Und mit Sir Clayton Powell sind Sie also auch befreundet?“
„Wie bitte? Nein ... ich kenne ihn ja kaum“, entgegnete Ruth überrascht, trat ans Fenster und sah hinaus. „Ich hoffe, Sie kommen genauso schnell und sicher heim, wie Sie hierher gelangt sind.“
„Falls Sir Clayton mich wieder kutschiert, hege ich keine Zweifel daran, bald zu Hause zu sein.“ Dr. Bryants Miene zeigte deutlich, dass er Ruths Wunsch, er möge bald verschwinden, verstanden hatte.
„Ich habe gehört, dass er die Zügel meisterhaft zu führen versteht.“
„Und ich habe gehört, dass er sich auf das Leben eines Frauenhelden versteht“, gab Dr. Bryant vernichtend zurück.
„Das mag durchaus sein, aber heute sollten wir ihm die Rolle des Helden zugestehen. Sir Clayton hat angeboten, den Elementen zu trotzen und Sie zu holen, obwohl der Viscount meinte, das wäre seine Vaterspflicht.“
„Ja, ja. Ich kann mir schon denken, warum Sie ihn über den grünen Klee loben.“ Dr.
Bryant lachte bellend auf. „Kann sich der berüchtigte Schürzenjäger einer neuen Eroberung rühmen? Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Machen Sie lieber einen großen Bogen um ihn. Da ich ein Stadthaus besitze, kenne ich mich in der Londoner Gesellschaft ein bisschen aus und weiß von den Ausschweifungen, denen sich dieser Mann hingibt.“
„Über mich scheinen Sie im Gegensatz dazu recht wenig zu wissen“, unterbrach Ruth ihn. „Sonst würden Sie mir nicht zutrauen, das Opfer eines Schürzenjägers zu werden. Außerdem hoffe ich sehr, dass Sie nicht beabsichtigen, vor meinen Ohren vulgären Klatsch zu wiederholen.“
Auf Dr. Bryants Wangen erschienen rote Flecken. „Dann wissen Sie also von seinem Ruf, Madam. Und trotzdem halten Sie sich in seiner Gesellschaft auf?“
Empört trat Ruth einen Schritt auf ihn zu. Wie konnte er es wagen! Ausgerechnet Ian Bryant predigte ihr Moral – derselbe Mann, der ihr einen unsittlichen Antrag gemacht hatte, als seine Frau noch lebte! Sie war kurz davor, ihn daran zu erinnern, als die Tür geöffnet wurde.
Clayton, der den Raum betrat, sah Dr. Bryant und Ruth dicht voreinander stehen. Sie sahen sich in die Augen, und unausgesprochene Gefühle schienen zwischen ihnen zu schwingen. Sofort fühlte er sich in seinem Verdacht bestätigt: Vor ihm stand der Mann, der Ruth Hayden einen Heiratsantrag gemacht hatte. Die beiden waren ein Paar – oder würden es zumindest bald sein.
Er zog einen Mundwinkel hoch, als Ruth hastig einen Schritt zurücktrat, als fühlte sie sich ertappt. Ungerührt schlenderte er zu der Anrichte hinüber
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