02 - komplett
Schließlich werden häufig Verlobungen gelöst ...“
„Meine nicht“, entgegnete er knapp, das Gesicht immer noch zum Fenster gewandt.
Überrascht nahm Ruth seinen gelassenen Tonfall wahr. Sie hatte eigentlich eine geharnischte Standpauke erwartet, aber seine Worte klangen beinahe wie eine Bemerkung über das Wetter. „Was meinen Sie damit – Ihre nicht? Schließlich haben Sie sogar Ihre Ehe beendet, warum also nicht auch ...?“
„Das ist es genau, was ich meine“, unterbrach er sie. „Eine gescheiterte Ehe reicht für ein ganzes Leben.“
„Aber ... aber wir brauchen doch gar nicht zu heiraten.“
„Genau das erwartet man jedoch von uns. Spätestens morgen früh wird man in jedem Klub in St. James’s Wetten darüber abgeschlossen haben, wann die Hochzeit stattfindet. Jede einzelne Dame unserer Kreise wird bis morgen Abend mehrfach mit ihren Freundinnen erörtert haben, wie wohl das Kleid aussieht, in dem Sie vor den Altar treten.“ Clayton warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Und sicher gibt es sogar schon Leute, die Geld darauf setzen, dass die Verbindung scheitert.“
Ruth biss sich auf die Lippe. Er klang so verbittert, dass sie ihn beinahe mit der Versicherung getröstet hätte, sie würde ihn niemals betrügen oder verlassen. Zum Glück konnte sie die Worte noch rechtzeitig hinunterschlucken. Nicht auszudenken, wie Clayton eine solch unpassende Bemerkung aufgenommen hätte! Schließlich befürchtete er nicht, dass sie ihm davonlief. Nein, er machte sich Sorgen, ob er ihren Fängen wohl jemals wieder entkommen würde.
„Trotzdem lässt sich das Problem lösen.“ Es klang deutlich weniger überzeugend, als sie beabsichtigt hatte.
Endlich wandte Clayton sich ihr zu, aber in seinen Augen lag so viel Kälte, dass sie zusammenzuckte.
Verärgert rief sie aus: „Sehen Sie mich nicht so an! Schließlich tragen Sie zumindest eine Teilschuld an der ganzen Angelegenheit.“
„Oh, tatsächlich?“
„Ja, tatsächlich!“ Ruth war nicht mehr aufzuhalten. „Ihre ... Ihre Freundin war schließlich diejenige, die den Stein ins Rollen gebracht hat. Hätte sie nicht auf so gemeine Art und Weise Sarah angegriffen, dann wäre nichts von alledem geschehen.
Meine beste Freundin den Tränen nahe zu sehen, weil man sie schuldlos mit Häme überschüttete, das konnte ich einfach nicht ertragen.“
„Aha. Und um sich Erleichterung zu verschaffen, haben Sie in aller Öffentlichkeit erklärt, ich hätte Sie um Ihre Hand gebeten. Fühlen Sie sich seitdem besser?“
„Zumindest hat Sarah sich besser gefühlt, als diese gemeine Hexe die Flucht ergriffen hat.“ Die Antwort klang schnippisch, aber die Art, wie Ruth ihre im Schoß gefalteten Hände zusammenkrampfte, sprach Bände über ihr Unbehagen. „Sie haben davon nichts mitbekommen und wissen daher nicht, was vorgefallen ist.“
Das schien ihn eine Weile zu beschäftigen. Zumindest senkte sich Schweigen über das Kutscheninnere. Vergeblich versuchte Ruth, in Claytons Gesicht zu erkennen, was in ihm vorging, aber im Halbdunkel war das nicht möglich.
„Warum sind Sie nach London gekommen?“
„Wie bitte?“ Überrascht sah Ruth auf.
„Warum sind Sie nach London gekommen? Wollten Sie mich sehen?“
„Nein“, flüsterte sie. Aber die Antwort schien nicht sehr überzeugend zu klingen, denn Claytons Mundwinkel zuckten.
„Haben Sie sich Sorgen um mich gemacht? Wussten Sie, dass ich mich womöglich einem Duell stellen muss?“
„Sarah hat mich eingeladen, nach London mitzukommen“, gab Ruth rasch zurück.
Ihre Wangen brannten, und plötzlich war sie dankbar dafür, dass man in der Kutsche kaum etwas sehen konnte.
„Ich glaube eigentlich nicht, dass Sie Ihr Heim ohne zwingenden Grund verlassen würden.“
„Oh, es gab einen zwingenden Grund. Ich brauchte dringend ein bisschen Zeit und Raum, um weit weg von Willowdene über gewisse wichtige Lebensentscheidungen nachzudenken.“ Diese Ausrede war noch nicht einmal gelogen, und Ruth war froh, daran gedacht zu haben.
„Ach ja, ich erinnere mich ... der würdige Vertreter der Willowdener Gesellschaft.
Hat der Arzt Ihnen schon wieder einen Antrag gemacht?“
Sein Spott wurde mit einem wütenden Blick bedacht. „Es mag ja sein, dass Dr. Bryant auf dem Land lebt, aber zumindest besitzt er die Manieren eines Gentleman. Ich glaube nicht, dass er einer Dame jemals drohen würde, sie über seine Schulter zu werfen und aus einem Salon voller Gäste zu tragen.“
„Da haben Sie vermutlich
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