02 - komplett
Male überflog sie die beiden kurzen Absätze, nur um das Schreiben gleich darauf verärgert sinken zu lassen.
Es gab nichts daran zu deuteln: Ralph Pomfrey erklärte, er wolle seine Verlobte nicht länger an das ihm gegebene Versprechen binden. Außerdem sehe er es nicht länger als seine Pflicht an, ihre Ehre in einem Duell zu verteidigen. Sie solle heiraten, wen sie wolle – das waren die letzten Worte des Briefes, bevor er seine schwungvolle Unterschrift darunter gesetzt hatte.
Loretta ließ das Schreiben fallen, sodass es inmitten von Tiegeln, Fläschchen und Schachteln auf ihrem Frisiertisch zu liegen kam. Schon eine ganze Weile hatte sie Pomfrey nicht mehr zu Gesicht bekommen, und Clayton genauso wenig. Natürlich hatte sie die Gerüchte gehört, Clayton sei nach London zurückgekehrt, um mit Pomfrey zu sprechen und die Angelegenheit des Duells gütlich zu klären.
Loretta schnaubte vor Wut. Dass Ralph Pomfrey sich so leicht davon hatte abbringen lassen, den Verteidiger ihrer Ehre zu spielen, kränkte sie zutiefst. Sie hatte eigentlich geglaubt, alles dafür getan zu haben, dass er ihr weiterhin verfallen blieb. Aber sie hatte sich getäuscht.
Sobald sie von Claytons Ankunft in London gehört hatte, hatte sie ihm eine Nachricht geschrieben, er möge kommen und sie besuchen. Er jedoch besaß noch nicht einmal die Höflichkeit, auch nur zu antworten. Allerdings tröstete Loretta sich damit, dass auch sonst niemand etwas von ihm gesehen oder gehört hatte.
Außer Pomfrey, so wie es den Anschein hatte. Die beiden Herren mussten sich getroffen und ihre Streitigkeiten beigelegt haben – die Streitigkeiten, die sie selbst so sorgfältig geschürt hatte. Wut raubte ihr den Atem. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte man sie gestern Abend auch noch im Haus der Storeys unmöglich gemacht. Sie hatte Bernard Graves nur deshalb überredet, sie mit zu der Soiree zu nehmen, weil sie dort Clayton zu treffen hoffte. Sie wollte ihn mit ihren eigenen Mitteln davon überzeugen, wieder zu ihr zurückzukehren. Aber Clayton war noch nicht einmal in Erscheinung getreten – anders als seine verflixte Verlobte.
Clayton würde also heiraten. Wenn nun durchsickerte, dass auch Pomfrey sich von ihr abgewendet hatte, dann lachte ganz London über sie. Loretta wusste, dass sie zumindest einen Teil ihrer Würde retten konnte, indem sie diesen alten Narren Graves dazu brachte, sie zu heiraten. Doch bei der Erinnerung an seine kalten Hände und an den Speichel, der seine bläulichen Lippen benetzte, schauderte es sie.
„Sie haben Besuch, Madam“, verkündete das Dienstmädchen. Vergeblich versuchte es, ein Grinsen zu unterdrücken, als es die Aufregung bemerkte, in die Lady Vane durch diese Ankündigung versetzt wurde. Mit den nächsten Worten wurden deren Hoffnungen jedoch zunichte gemacht: „Es ist eine Dame ... Mrs. Beauvoir.“
Enttäuscht seufzte Loretta auf. Christine Beauvoir, eine alte Verbündete, wenn auch keine Freundin, kam sicher, um wegen der Vorfälle gestern Abend Mitgefühl zu heucheln. Die Lebensumstände der beiden Frauen ähnelten sich – auch wenn Loretta sich Mrs. Beauvoir unendlich überlegen fühlte. Schließlich war es ihr gelungen, sich durch Heirat einen Titel zu verschaffen. Doch sowohl Christine als auch sie selbst waren früh verwitwet und hatten sich später als Mätressen reicher –
und wechselnder – Männer aushalten lassen. Keine der beiden machte sich irgendwelche Illusionen darüber, dass man in der feinen Gesellschaft auf sie herabsah. Solange sie allerdings an der Seite eines Mannes auftraten, gewährte man ihnen die Aufmerksamkeit, die ihm, seinem Namen und seinem Rang gebührte.
Im Moment besaß Loretta jedoch weder einen Geliebten noch einen Verlobten, und ihr Wohlstand schmolz erschreckend schnell dahin. Das brachte sie in eine unangenehme Lage, denn der ton erwartete von gefallenen Frauen Demut und Zerknirschung, wenn sie nicht obenauf schwammen. Und Bescheidenheit war Loretta Vanes Sache nicht.
Sie wollte dem Mädchen schon befehlen, die Besucherin wegzuschicken. Sie fühlte sich einfach nicht in der richtigen Stimmung, die vergifteten Pfeile von Christine Beauvoir abzuwehren. Doch im letzten Moment erinnerte sie sich einer Sache, die ihr ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Nachdenklich tippte sie sich mit dem sorgfältig manikürten Fingernagel gegen die Lippe. „Bitten Sie Mrs. Beauvoir in den Rosa Salon. Ich komme gleich hinunter.“
Mit einem dünnlippigen Lächeln nahm
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