02 - komplett
Cognac herbeizubringen. Verdrossen nahm er ein Päckchen Karten von dem Tisch neben ihm, mischte sie und fächerte sie zu einem Halbkreis auf.
„Möchtest du raten, warum ich dich für einen ebenso großen Dummkopf halte wie Pomfrey? Ich gebe dir sogar einen Hinweis: Diesmal hat es nichts mit Loretta zu tun.“
„Nein“, erwiderte Clayton rau und schob die Karten wieder zu einem sauberen Stapel zusammen.
„Oh, dann erzähle ich es dir trotzdem. Ruth hat sich gestern mit bewundernswerter Selbstlosigkeit verhalten und dabei großen Mut bewiesen. Du dagegen ...“
„Ich weiß“, unterbrach Clayton ihn. „Du brauchst kein weiteres Wort darüber zu verlieren, denn ich weiß, dass alles meine Schuld ist. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde schon für Ruth Hayden sorgen.“
„Und wie, bitteschön?“ Doch egal, wie sehr Gavin versuchte, dem Freund eine klare Aussage zu entlocken – es war vergebene Liebesmüh’. Clayton verweigerte jede weitere Äußerung zu der Angelegenheit.
Halbherzig begannen die beiden Freunde ein Kartenspiel. Doch immer wieder wurden sie von Bekannten unterbrochen, die herüberkamen, um Clayton ihre Glückwünsche auszudrücken. Bei alledem blieb Clayton höflich, verzog aber keine Miene.
Nach einer Weile betrat sogar Ralph Pomfrey den Klubraum des White’s und trat zu Clayton, um aller Welt zu zeigen, dass die Verstimmung zwischen ihnen aus der Welt geschafft war. Clayton rang sich ein höfliches Lächeln ab, aber er wirkte abwesend.
Kaum eine halbe Stunde später entschuldigte er sich und ging. Gavin wusste, dass er ihn nicht zu fragen brauchte, wohin er wollte.
„Ein Gentleman möchte Sie sprechen, Madam. Er wartet im Salon.“ Nachdem das Dienstmädchen die Meldung überbracht hatte, knickste es und verschwand sogleich wieder. Ruth setzte sich im Bett auf, wo sie die letzten Stunden müßig mit dem Studium eines Modejournals verbracht hatte. Ohne es sich einzugestehen, hatte sie auf Clayton gewartet. Zwar hatte er mit keinem Wort, mit keiner Nachricht sein Kommen angekündigt, aber sie ahnte, dass er die Ereignisse des vergangenen Abends nicht einfach auf sich beruhen lassen würde. Sie war allein, denn Sarah war einer Einladung von Susannah Storey zum Tee gefolgt und hatte den kleinen James mitgenommen.
Nun war der Augenblick also gekommen, den sie den ganzen Tag ebenso sehr herbeigesehnt wie gefürchtet hatte. Ruth spürte, wie ihr die Kehle eng wurde, und tat einen tiefen Atemzug, um ihr Herzklopfen zu beruhigen. Dann stand sie entschlossen auf. Sie musste mit Clayton reden, denn es gab wichtige und dringende Angelegenheiten zu besprechen. Wie hatte er sich entschieden? Wie hatte sie sich entschieden? Seit sie am Morgen aufgewacht war, hatte sie versucht, mit klarem Kopf darüber nachzudenken. Doch der Aufruhr in ihren Gedanken hatte es ihr nicht erlaubt, eine Lösung zu finden. Alles, was sie wusste, war das: Sie liebte Clayton.
Aber war das gut oder schlecht?
Das Dienstmädchen hatte etwas verschüchtert gewirkt, als es den Besucher anmeldete. Daraus schloss Ruth, dass der Gentleman vermutlich nicht allerbester Laune war. Ihr Herz pochte beinahe schmerzhaft. Zumindest wusste sie jetzt, was sie erwartete: Er war immer noch wütend auf sie. Dabei wollte sie bereitwillig aller Welt erklären, dass sie gelogen hatte – das war kein leeres Versprechen gewesen. Wenn er gekommen war, um sie beim Wort zu nehmen, dann würde sie dazu stehen.
Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass ihr Gesicht blass aussah. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend ging Ruth hinunter.
„Dr. Bryant!“
Überrascht verharrte Ruth auf der Schwelle zum Salon. Sie brauchte einen Augenblick, um die Fassung wiederzugewinnen. Dann trat sie hinein und schloss die Tür hinter sich. Plötzlich fühlte sie sich an Claytons Besuch in ihrem kleinen Cottage in Fernlea erinnert: Damals war sie sich sicher gewesen, dass es sich bei ihrem Besucher um Dr. Bryant handeln müsse; heute verhielt es sich genau umgekehrt.
„Sie scheinen überrascht zu sein, mich hier zu sehen“, bemerkte Dr. Bryant. In seiner Stimme klang ein Unterton bitteren Humors durch.
„Ja ... nun, ja, ich muss es zugeben, Sir. Ich hatte keine Ahnung davon, dass Sie eine Reise nach London planten.“ Ruth bemühte sich, so beiläufig wie möglich zu klingen.
„Mir ging es ähnlich: Auch mir war nicht bekannt, dass Sie in die Hauptstadt fahren wollten. Inzwischen habe ich nicht nur das erfahren, sondern auch die Gründe,
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