02 - komplett
ergriff Miss Lattimer die Hand ihres Reitknechts und hüpfte leichtfüßig vom Gig, ohne auf die zahlreichen Pfützen zu achten. Sie schob den Schleier ihres Hutes nach oben und sah sich mit großem Interesse um. „Da sind wir also, Jethro. Moon House!“ Ein erfreutes Lächeln umspielte ihren Mund, trotz der offensichtlichen Verwahrlosung, die sich ihrem Blick bot. Sie hatte wieder ein Zuhause und die Hoffnung auf einen Neubeginn.
Der Reitknecht, ein schlaksiger, ernster Jüngling von kaum mehr als sechzehn Jahren, sah sich geringschätzig um und bemerkte: „Ja, da sind wir, Miss Hester. Und Ihr Haar hat sich schon wieder aus dem Knoten gelöst.“
„Ach, verflixt.“ Hester machte eine vage Bewegung, um die braunen Locken zu bändigen, gab es aber schnell auf. „Jethro, jetzt kümmerst du dich um Hector und siehst dir die Räume über den Ställen an. Der Makler gab mir zu verstehen, sie seien bewohnbar und verfügten auch über ein Bett und anderes Mobiliar. Allerdings bin ich sicher, dass alles gereinigt werden muss, bevor du dort schlafen kannst. Was ist?“
„Hector, Miss Hester?“
„Das Pferd. Ich dachte, ich gebe ihm besser einen Namen, und Hector erschien mir passend. Es ist doch ein guter Name, findest du nicht?“ Sie betrachtete den Hengst zufrieden. Bisher hatte sie noch nie selbst ein Pferd kaufen müssen, meinte aber, vor zwei Tagen mit Hector eine gute Wahl getroffen zu haben.
Das sommersprossige Gesicht des Jungen wurde noch ernster. „Kann ich nicht beurteilen, Miss Hester.“
Sie lächelte. „Hör auf, hier draußen deine Butlerstimme einzustudieren, Jethro. Im Haus kannst du vornehm tun, so viel du willst – das heißt, wenn du nicht gerade die Küchenhilfe, den Stiefeljungen oder den Lakaien abgeben musst. Hier draußen bist du Stalljunge und Gärtner. Falls es jemals aufhört zu nieseln. Wir werden wohl alle lernen müssen, viele Dinge zu tun. Ich meinerseits gehe jetzt hinein und versuche mich in der Rolle der Haushälterin.“
Sie wandte sich um und holte einen kleinen Koffer, ihr Retikül und einen Regenschirm aus dem Gig. „Kochen werde ich wohl auch müssen, wenn nicht ein Wunder geschieht und Miss Prudhome und Susan rechtzeitig vor dem Abendessen eintreffen.“
„Das bezweifle ich, Miss Hester“, bemerkte Jethro finster, während er schon dabei war, das Pferd auszuspannen und ihm das Geschirr abzunehmen. „Ich bringe gleich die Körbe hinein und mache das Feuer im Küchenherd an.“
Auch Hester ging davon aus, dass ihre Gefährtinnen noch auf sich warten lassen würden. Ihre Gesellschafterin litt so sehr an den Schaukelbewegungen der Chaise, dass der Kutscher gezwungen gewesen war, so langsam wie möglich weiterzureisen.
Heute werde ich mich wohl selbst um das Mahl und das Feuer in den Kaminen kümmern müssen, dachte Hester nicht eben begeistert. Ebenso würde sie die Betten machen und die Räume von den übelsten Spinnweben befreien.
Sie zog den großen Schlüssel aus ihrem Retikül und öffnete die Hintertür von Moon House. Beinahe ehrfürchtig schritt sie über die Schwelle und betrat einen finsteren, kühlen Raum. Vorfreude und innere Erregung nahmen ihr in diesem unendlich scheinenden Moment den Atem. Die Luft war stickig und voller Staub, roch nach kalter Asche und – bedauerlicherweise – nach Mäusen. Während Hester regungslos dastand und sich an die Dunkelheit zu gewöhnen versuchte, war ihr plötzlich, als würde ein zarter, warmer Hauch den Raum erfüllen, als wären lachende Stimmen zu vernehmen, der Duft nach Rosen und ein Gefühl innigsten Glücks – doch genauso plötzlich war die Ahnung wieder verschwunden.
Hester musste über ihre lebhafte Einbildungskraft lächeln. Wie es schien, konnte das Glück fast greifbare Formen annehmen. Die früheren Bewohner dieses Hauses mussten einmal sehr glücklich gewesen sein, das spürte sie. Und sie hatte es schon gespürt, als sie vor über einem Jahr an der Pforte gestanden und den mit Unkraut überwucherten Rosengarten und die efeubewachsene Fassade betrachtet hatte. Der unbeschreibliche Charme, den das verwahrloste kleine Haus ausstrahlte, war ihr schon damals zu Herzen gegangen. Danach war sie schnell wieder über die Gemeindewiese zurück zum „Bird in Hand“ gelaufen und zu John, ihrem Freund und Beschützer, der geduldig im Privatsalon auf sie gewartet hatte.
Diese Reise nach Oxford war ein Fehler gewesen. Von da ab verschlechterte seine Gesundheit sich drastisch, und vor drei Monaten war er
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