02 - komplett
die Schulter geworfen und aus einem Salon getragen?“
„Sie war eher Mädchen als Frau“, antwortete er und setzte den Fuß auf die erste Treppenstufe.
„Wer war sie?“, erkundigte Ruth sich. Sie musste sich Mühe geben, ihre Eifersucht nicht zu verraten. „Meine Schwester Rosemary. Mit sechzehn behauptete sie plötzlich, unsterblich in einen jungen Poeten verliebt zu sein, der ihr zu Ehren ein paar Verse verfasst hatte. Obwohl alle Anwesenden sie inständig baten, das Geschreibsel für sich zu behalten, wollte sie die Werke unbedingt vortragen.“
„Hat sie ihn geheiratet?“ Geschickt ergriff Ruth im Vorbeigetragenwerden einen Leuchter, um ihnen den Weg zu erhellen.
„Nein. Sie hat einen Gutsherrn aus Devon geheiratet, dem jeder Sinn für Romantik vollkommen abgeht.“
„Arme Rosemary“, seufzte Ruth. „Braucht nicht jede Frau ein bisschen Romantik im Leben?“
„Der Poet ist ihr Liebhaber geworden“, entgegnete Clayton trocken.
Ruth fasste ihn am Kinn und drehte seinen Kopf, sodass er sie ansehen musste. „Ist das wirklich wahr?“
„Ja, wirklich.“
„Kannst du dichten?“, fragte sie verschmitzt.
„Wenn es unbedingt sein muss ... Aber zuallererst will ich dir zeigen, dass ich mich auch ohne Feder und Tinte mit Romantik auskenne.“
„Hast du den Diamanten gesehen?“
„Hast du den Gentleman gesehen?“
Mrs. Stern und Mrs. Brewer wechselten am Gartentor zu Ruths Cottage bedeutungsvolle Blicke.
„Jetzt verstehe ich die Gerüchte, dass Dr. Bryant sich offenbar anschickt fortzuziehen.“ Wichtigtuerisch verschränkte Mrs. Brewer die Arme vor der Brust.
„Habe ich nicht gleich gesagt, dass sein angeblicher Umzug in sonnigere Gefilde nichts mit der Gesundheit seines Jungen zu tun hat?“, ergänzte Mrs. Stern. „Auf mich wirkt der kleine Joseph frisch und munter. Es muss dem Doktor sauer aufstoßen, dass Mrs. Hayden ihn abgewiesen hat. Ansonsten würde er nicht zu so drastischen Maßnahmen greifen.“
„Trotzdem geht das Schicksal manchmal seltsame Wege“, bemerkte Mrs. Brewer. „Da wartet Mrs. Hayden schon seit vielen Jahren darauf, dass eines Tages ein anständiger Mann auftaucht, und dann bewerben sich gleich zwei auf einmal um sie!“
„So geht es einem mitunter auch mit Söhnen.“ Mrs. Sterns düsterer Tonfall verriet, wie wenig sie mit der Vorsehung einverstanden war. „Sechs Töchter habe ich geboren, bevor Stanley kam. Und kaum elf Monate später hielt ich auch noch Benjamin in den Armen.“ Sie unterbrach sich und wies mit dem Kinn auf die sportliche Kutsche, deren Umrisse in der Dämmerung gerade eben auszumachen waren. „Sieh dir das an.“
„Er wohnt bestimmt in Mayfair und ist geradezu teuflisch reich“, flüsterte Mrs.
Brewer beeindruckt.
„Mit teuflisch hast du sicher recht – in jeder Beziehung.“ Mrs. Stern stieß die Nachbarin mit dem Ellenbogen in die Seite und legte rechtschaffene Empörung in ihre Stimme. „Nur gut, dass Mrs. Hayden von hier fortzieht. Wenn die braven Bürger von Willowdene wüssten, dass sie das tut, bevor es auch nur richtig dunkel ist ...“
Mit angehaltenem Atem sahen die beiden zu, wie Kerzenschein aus dem Treppenhaus verschwand, nur um im oberen Stockwerk wieder aufzutauchen. Sie warteten, bis er durchs Schlafzimmerfenster zu sehen war.
„Man kann allerdings nicht leugnen, dass er geradezu teuflisch gut aussieht“, räumte Mrs. Brewer ein.
„Vermutlich würde es sogar eine Nonne Überwindung kosten, ihm nicht nachzugeben“, stimmte Mrs. Stern ihr zu. In bestem Einvernehmen hakten die Nachbarinnen sich unter und gingen nach Hause.
- ENDE -
DAS GEHEIMNIS DER WINTERROSEN
Mysteriöse Geräusche in der Nacht, welkende Rosen im Schnee … In Miss Hester Lattimers Cottage scheint es zu spuken! Was weiß ihr Nachbar Guy Westrope, Earl of Buckland, darüber? Beharrlich, ja fast zärtlich, sucht der attraktive Lord ihre Nähe.
Will er sie erobern – oder steckt etwa er hinter dem Geheimnis von Moon House...
1. KAPITEL
4. Dezember 1814
Die Einwohner Winterbourne St. Swithins waren sehr stolz auf ihre kleine Gemeinde.
Es war kein ländliches Provinznest, wie es so viele gab, kein verschlafenes Dörfchen, lediglich bevölkert von schlichten Bauern und kleinen Grundbesitzern, einem rotbäckigen Squire und einer Kirche und ein oder zwei Gaststätten als einzigen Vorzügen.
Nein, ihr Dorf, so rühmten sie sich, lag immerhin am Postweg nach Aylesbury. Nur die Gemeindewiese trennte es vom neuen Kanal, den der verrückte
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