02 Nightfall - Rueckkehr des Engels
wollte Lucien wissen, auch wenn er die Antwort fürchtete.
»Gabriel.«
Loki hatte also gelogen. Das war nicht überraschend, doch was Lucien das Blut in den Adern gefrieren ließ, war die Frage nach dem Warum. Loki hatte vorgeschlagen, den Creawdwr – Dante – gemeinsam zu fesseln, so dass Lucien möglicherweise wieder über Gehenna herrschen könnte. Doch jetzt vermutete er, dass Loki in Wahrheit gehofft hatte, Gabriel zu verdrängen, indem er Luciens Ehrgeiz weckte – einen Ehrgeiz, der gemeinsam mit Jahwe gestorben war. Da Loki nun mal Loki war, hatte er jedoch nicht einfach die Wahrheit gesagt, sondern hatte ihn angeschwindelt.
Hatte er, Lucien, etwa einen Verbündeten zu Stein verwandelt?
Hinter dem neuen Polarlicht stieg ein Lied in die Nacht, das zehn-, zwanzig-, dreißigmal erwidert wurde. Schwarze und goldene Flügel verschwammen in den tanzenden Wellen aus Licht, als die Elohim aus dem Riss zwischen den Welten herausdrängten.
»Ich hoffe, du hast deine Krallen geschärft, mein törichter, eigensinniger Cydymaith .«
Plötzlich überkam Lucien tiefe Ruhe. Auf diesen Moment hatte er so lange gewartet, dass er sich jetzt, als er endlich da war, erleichtert fühlte. Hastig schloss er seine Verbindung zu Dante und versiegelte es, so dass sein Sohn auch dann nicht zu ihm durchdringen konnte, wenn er es wollte. Er überlegte, ob er sie ganz durchtrennen sollte, fürchtete sich aber vor den Folgen, die das für sie beide bedeuten könnte.
»Ich habe meine Krallen immer geschärft gehalten«, antwortete er. Dann bot er dem ersten Aingeal die Stirn und schlug nach ihm. Lilith kämpfte auf seiner Seite, als sei das der einzige Ort, wo sie hingehörte – als wären sie niemals über Jahrhunderte getrennt gewesen. Ihre Flügel durchschnitten den Himmel, und ihre Klauen ließen dunkles Blut in die Nacht spritzen.
Als glaube sie, es gäbe noch eine Chance zur Flucht.
4
IM DUNKELN
Auf der I-5 zwischen Portland und Salem, Oregon · 22. März
Shannon Wallace starb unter den schützenden Ästen einer Eiche, ihr Blut tränkte den Boden, der von Fichtennadeln übersät war, wie Regen an einem heißen Sommertag. Sie starb im Dunkeln, ohne Widerstand zu leisten. Sie starb betrunken, während sie in das Gesicht ihres Mörders blickte.
Dessen war sich Heather Wallace absolut sicher.
Äste und trockenes Laub knirschten unter ihren Schuhen, als sie durch das Unterholz lief. Sie blieb neben einer von Flechten übersäten Eiche stehen. Genau an diesem Ort hatte man die Leiche ihrer Mutter zwei Jahrzehnte zuvor entdeckt.
Wie Feuerräder wirbelten Erinnerungen durch sie hindurch – bewegliche Bilder, die sich immer wieder veränderten und verwandelten.
Wirbel: Mom lacht. Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht, und die Luft um sie herum schimmert wie an einem Sommermorgen. In einem kleinen Messinggefäß verbrennen Räucherstäbchen, die nach Rosen duften.
Wirbel: Mom ist still und konzentriert sich auf das Putzen des Hauses. Sie wischt alle Oberflächen mit einem Reinigungsmittel und harten Bürsten ab. Stunden über Stunden. Tagelang.
Wirbel: Der raue Klang von Moms Zorn. Das Krachen und Klirren zerschmetterter Teller, von Splittern aus Keramik. Der drückende Mief von Zigaretten und Alkohol.
Wirbel: Mom sitzt am Küchentisch, die Ellbogen auf der vollgemüllten Tischplatte, ihr Kopf in ihren Händen. Ihre ungekämmten, strähnigen Haare fallen über ihre Fingergelenke. In einem Aschenbecher mit ausgedrückten Kippen glüht eine Zigarette. Leere braune Pillenfläschchen rollen über den Tisch und landen neben einer halbleeren Wodkaflasche.
Wirbel: Mom lacht …
Heather blinzelte, und die Bilder verschwanden. Sie atmete die sonnenwarme Luft ein, um so den erinnerten Geruch von Zigaretten und Rosen aus ihrer Nase zu bekommen.
Shannon war dreißig gewesen, als sie starb, Mutter von drei Kindern, Ehefrau des FBI-Gerichtsmediziners James William Wallace. Heather war schon ein Jahr älter, als sie je geworden war.
Shannon war eine Frau gewesen, die keiner je verteidigt hatte, nicht einmal ihr Mann. Der Fall wurde nie geklärt. Er geriet in Vergessenheit, und Shannon erfuhr keine Gerechtigkeit. Heather war daran nicht schuldlos. Selbst nachdem sie erfahren hatte, wie ihre Mutter gestorben war, hatte sie noch sechs Jahre gebraucht, ehe sie handelte. Sie musste erst beobachten, wie Dante von seiner Mutter sprach, die er nie kennengelernt hatte.
»Räche deine Mutter«, flüstert Lucien, als Dante die Augen
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