02 Nightfall - Rueckkehr des Engels
sehnte. Jahwe hatte es geführt, als seine heilige und zugleich wahnsinnige Wünschelrute.
Nachdem Jahwe verschwunden war und Lucien und Ashtoreth nach ihrem Calon-Cyfaill suchten, hatte es sich Lilith in Luciens Abwesenheit auf Gehennas Sternenthron aus dunklem Marmor bequem gemacht und war gegen Gabriel und seine goldenen Fittiche in den Krieg gezogen. In einem einzigen Augenblick hatte sie den Frieden zerstört, den Lucien über Jahrhunderte so sorgfältig gepflegt hatte.
Lucien erhob sich aus dem Mississippi in den Nachthimmel. Seine Flügel breiteten sich weit aus und begannen zu schlagen,
wodurch ein Schauer aus Wassertropfen auf den Fluss herabregnete.
Gehenna vergeht.
Hatte Lilith die Wahrheit gesagt? Denkbar war es. Das Warten auf das Auftauchen eines neuen Creawdwr unter den Hochgeborenen der Elohim hatte noch nie so lange gedauert – über zwei Jahrtausende. Nährte sich Gehenna von einem Schöpfer wie die Nachtgeschöpfe von Sterblichen – und würde es ohne ihn tatsächlich sterben?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Lucien schoss sich um die eigene Achse drehend höher in die Luft. Die Luft hier oben war dünn, kalt und brannte in seinen Lungen. Sie vereiste seine Wimpern, gefror nasses Haar und überzog seine Fittiche mit lilienweißem Frost. Doch auf seiner heißen Haut schmolz die Eiseskälte. Die Kilometer schossen an ihm vorbei, als er über den dunklen, ruhelosen Ozean flog, während ihm der Geruch von Salzwasser in die Nase stieg.
Sein Herz raste, als er sich dem Tor zwischen Gehenna und der Welt der Sterblichen näherte. Es war eine Grenze, die er seit langer Zeit nicht mehr überschritten hatte.
Er hatte es nicht gewagt. Aber er wusste, dass Lilith die Wahrheit gesagt hatte.
Ein tirilierendes Wybrcathl erregte seine Aufmerksamkeit. Lilith wollte ihn warnen, Gehenna zu betreten. Interessant, wenn man bedachte, dass es ihre Herrschaft festigen würde, wenn sie ihn hier vor Gericht stellte.
Vielleicht hatte sie gehofft, die Existenz des Creawdwr noch geheim halten zu können, bis sie ihn gefangen genommen und unter ihre Gewalt gebracht hatte.
Lucien weigerte sich, ihr zu antworten, sondern flog stumm weiter. In ihm breiteten sich aber Zweifel aus. Loki hatte erzählt, dass sich der Morgenstern mit Gabriel zusammengetan hatte und dass die zwei einen erneuten Feldzug gegen Lilith planten, um ihr den Marmorsternenthron zu entreißen.
Wenn sie den Creawdwr fesselte und seine Calon-Cyfaill wurde, konnte sich der Morgenstern genauso gut gleich nach Sheol verziehen, es sich dort in den Gluten bequem machen und sein strahlend weißes Haar mit Asche bedecken, denn dann würde niemand mehr auch nur einen Flügel rühren, um seine Befehle auszuführen – jedenfalls so lange nicht, wie Lilith mit einem Erschaffer an ihrer Seite herrschte.
Aber was war mit Gabriel? Der Hochgeborene mit dem bernsteinfarbenen Haar würde alle immer wieder daran erinnern, dass er einmal in der Welt der Sterblichen die Stimme Jahwes gewesen war und dann seine Dienste ganz einfach dem neuen Creawdwr anbieten.
Gabriel war eine verdorbene Stimme und zudem gefühllos. In Lucien meldeten sich Verbitterung und Wut. Er hatte es immer bereut, den pompösen, selbstgefälligen Aingeal am Leben gelassen zu haben.
Wer, fragte sich Lucien, würde wohl dazu ernannt werden, das Gleichgewicht zu garantieren und den dritten Teil der Triade zu bilden, den zweiten Calon-Cyfaill ? Oder besser: Wen würde Lilith wählen lassen?
Für seinen Sohn?
Lucien flog weiter durch die Nacht, seine Flügel bewegten sich sicher und gleichmäßig. Er nahm einen Farbschimmer wahr. Es waren wellenförmige blaurote, blassblaue und goldene Schlieren, die den Himmel überzogen – ein Polarlicht, wo keines sein sollte.
Liliths Wybrcathl endete.
Lucien wurde langsamer und blieb mit flatternden Flügeln schwebend in der Luft stehen. Er starrte erschüttert auf das, was sich seinen Augen bot. Wo früher einmal ein goldenes Tor gefunkelt hatte, sichtbar nur für die Elohim, war jetzt nur noch ein Loch im Gespinst der Realität. Die vielen Farben und die Lebensenergien Gehennas flossen ungehindert in den Himmel der Sterblichen.
Lilith hatte die Wahrheit gesagt. Gehenna verblasste.
Sie schwebte neben ihm. Ihre Haarsträhnen hatten sich in lange, funkelnde Eiszapfen verwandelt. Die schimmernden Farben spiegelten sich auf ihrem Gesicht. »Warum hast du nicht auf mich gehört?«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Wer regiert Gehenna?«,
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