02 - Schatten-Götter
etwas Besseres einfallen lassen.«
»Das haben sie bereits«, gab sie leise zurück. Sie betrachtete die Wirkung des unaufhörlichen Beschusses auf Scallow und stieß einen unterdrückten Fluch aus. Fast ein Viertel der Stadt schien in Flammen zu stehen, und eine gewaltige Rauchsäule wurde vom Wind nach Norden getrieben. Einen Moment glaubte sie, die Schreie der Eingesperrten und Sterbenden zu hören, aber das war eigentlich unmöglich. Vermutlich ist es der Wind, dachte sie. Oder das Rauschen der Wellen.
Sie blickte wieder auf die angreifende Flotte. Das mastlose Geisterschiff war näher gekommen und auf Kollisionskurs mit dem fliehenden Schiff aus Scallow gegangen. Dem Steuermann des angeschlagenen Schiffs gelang es zwar, abzudrehen, um einen frontalen Zusammenstoß zu vermeiden, doch zu Kerens Entsetzen änderte das grünschimmernde Brunn-Quell-Schiff ebenfalls den Kurs und fuhr rücksichtslos auf das Schiff aus Scallow zu.
Unmittelbar vor dem unvermeidlichen Aufprall sprangen Gestalten in das kalte Wasser und schwammen zu beiden Seiten des Scallowaners davon, der im nächsten Moment von dem verfluchten Schiff gerammt wurde. Der Scallowaner wurde nicht weggeschoben und rollte auch nicht zur Seite, denn der Bug des Angreifers bohrte sich knirschend direkt in die Backbordseite und fraß sich, ohne Fahrt zu verlieren, durch Hülle, Deck und Kiel des Schiffes aus Scallow. Das zerstörte Schiff wurde in zwei Teile geteilt und sank augenblicklich. Das Brunn-Quell-Schiff, in dessen schäumendem Kielwasser Wrackteile tanzten, schwenkte rasch nach Backbord ab und nahm Kurs auf die Wrackstadt. Es war, so schätzte Keren, höchstens noch eine Minute entfernt. Eine düstere Vorahnung regte sich in ihr. Sie drehte sich zu dem Axtkämpfer und seinen Kameraden herum. »Wir können hier nicht bleiben! Dieses Ding segelt direkt auf uns zu!«
Ihre Warnung bescherte ihr ein herausforderndes Lachen. »Keine Angst, Mädchen. Wir beschützen dich schon!« »Ihr Narren!«, schrie Keren und rannte über die Mole vom Ufer weg. Sie schrie den Leuten auf den Schiffen rechts und links von ihr zu, ihre Heime zu verlassen und zum Hauptkai zu flüchten. Die einzigen Antworten bestanden in Obszönitäten, bis jemand am Ende des Docks schrie:
»Beim Blut der Nacht! Sie hat Recht!«
Ein kurzer Blick über die Schulter verschaffte Keren Gewissheit. Das Brunn-Quell-Schiff würde in wenigen Sekunden das uralte Wrack auf der rechten Seite rammen, und die Menschen strömten in hysterischer Panik aus den Luken auf die Mole und schlössen sich denen an, die bereits vom Ende der Mole flüchteten. Keren rannte um ihr Leben. An der Treppe nahm sie drei Stufen auf einmal, während sie gleichzeitig jeden Moment die Erschütterung des Aufpralls der beiden Schiffe erwartete. Sie erreichte den oberen Treppenabsatz, wagte nicht, Zeit zu verlieren und sich umzudrehen, raste zu ihrem Pferd, riss die Zügel los und sprang in den Sattel. Erst dann sah sie zurück, und der Anblick, der sich ihr bot, erschütterte sie bis ins Mark.
Mehr als hundert Menschen waren aus den Schiffen und von den Stegen geflohen und hatten sich auf der unteren Mole versammelt. Dort wähnten sie sich in Sicherheit. Aber von ihrem höheren Standort aus sah Keren alles, jede schreckliche Einzelheit.
Ein donnerndes Krachen ertönte, als sich das schimmernde Schiff in das alte, verfallene Wrack bohrte. Die halb verrottete Hülle brach auseinander, und das Brunn-Quell-Schiff fraß sich unaufhaltsam einen Weg hindurch, riss Kabinen und Frachträume auf, die zu Heimen und Schänken und Geschäften umgebaut worden waren, und vernichtete auf seinem Weg alles ohne Unterschied. Einen Moment glaubte Keren, es würde langsamer werden, vielleicht an Schwung verlieren oder stecken bleiben, aber es fuhr weiter, als wäre es eine scharfe Klinge, die durch Kinderspielzeug aus Papier schnitt.
Der ganze Hafen erbebte, und Kerens Pferd wieherte schrill und sprang vor Schreck zur Seite. Sie zog die Zügel an und klopfte dem Tier mit ihrer warmen Hand auf den Hals, um es zu beruhigen. Unter dem Splittern des zerberstenden Holzes ertönte war noch ein anderes, tiefes Krachen, und sie hörte kreischende, entsetzte Stimmen, die näher kamen, als die Menschen von der tiefer gelegenen Mole hinauf auf den Kai strömten. Hinter ihnen bahnte sich das Brunn-Quell-Schiff erbarmungslos seinen Weg durch ein anderes Wrack zu dem Pier in Kerens Nähe. Anders als die niedrigeren Molen war die Landungsbrücke jedoch auf
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