02 - Schatten-Götter
Gesicht. Erst nach einer Schrecksekunde erkannte sie, dass es sich um einen Armbrustbolzen handelte, an dem ein dünner Strick befestigt worden war. Ohne zu Zögern packte sie den Strick und verfolgte ihn mit einem Blick bis zu seinem anderen Ende, an das Medwin und Golwyth ein dickes Tau gebunden hatten, welches sie jetzt zu ihr hinabließen.
Keren lachte vor Erleichterung schluchzend auf, als sie begann, die Rettungsleine einzuholen.
16
Göttliche Mutter!
Alle, die leben und atmen, nehmen von dir,
Und alle, die schlafen und sterben, gehen zu dir.
Aus: DIE WORTE DES VATERBAUMS, 5. ANRUFUNG
Golwyths Männer zogen Keren von der zerstörten Brücke hoch, und Medwin ließ sich seine Bestürzung über ihren Zustand äußerlich nicht anmerken. Ihr Reiterkoller war an der Schulter aufgerissen, sie war über und über mit Schlamm bespritzt, hatte Kratzer und Prellungen im Gesicht und an den Händen, und aus einer Wunde an der Schläfe lief Blut über ihre Wangen, was sie nicht einmal zu bemerken schien. Dennoch strahlte die drahtige Frau die unbeugsame Bereitschaft aus, sich wieder ins Getümmel zu stürzen.
Nicht diesmal, Mylady der Schwerter, dachte Medwin. Ich will dich in Sicherheit wissen. Möglicherweise kann uns deine Nähe zur Dämonenbrut noch von Nutzen sein.
Er betrachtete die Zerstörungen, welche diesen Teil des Brückenbezirks förmlich ausgehöhlt hatten. Zahllose Menschen kletterten angsterfüllt über Treppen, Leitern und Laufplanken auf die niedrigen Landungsstege hinab, wo kleine Boote die Überlebenden an Land brachten. Ein Anblick, der sich vermutlich überall an diesem schwer getroffenen Ort wiederholte. Selbst am Strand jedoch war man vor einem Angriff nicht gerade in Sicherheit, wenn auch die Feuerbälle seltener flogen, seit Yared Hevrins Rammschiffe den Kampf gegen die Viermaster der Jefren-Theokratie aufgenommen hatten.
Möge die Erden-Mutter alles Leid und allen Schmerz von dir nehmen, Yared, und dir eine Auferstehung im Fleische in einer Zeit des Friedens gewähren …
Keren wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab und trat neben Medwin. Ihre Miene verriet ihren glühenden, kaum gezügelten Zorn.
»Medwin, ich muss wieder hinüber!«, begann sie. »Redrigh ist noch dort. Also wenn Golwyth ein Boot auftreiben kann, oder ein Floß oder irgendetwas, das schwimmt…«
»Wartet… Hauptmann Redrigh kann auf sich selbst aufpassen, aber wir müssen jemanden mit einer wichtigen Botschaft das Seeufer hinaufschicken …« Er hielt inne, schaute sie genauer an und runzelte die Stirn. »Ihr scheint am Rande der Erschöpfung zu sein, Keren. Wir bringen Euch zu Golwyths Haus zurück und senden einfach jemand anderen …«
»Nein, Ihr… Ihr könnt mich nicht einfach in die Stadt zurückschicken!«, widersprach sie wütend. »Bitte, Medwin, ich bin nicht einmal müde …«
Er warf ihr einen langen, durchdringenden Blick zu. »Habt Ihr denn noch genug Kraft für einen schnellen Galopp um den See?«
»Natürlich!«
Medwin tat, als fiele es ihm schwer, seine Meinung zu ändern, und schließlich seufzte er. »Einverstanden. In einer Bucht nördlich des Seeufers warten noch sieben weitere dieser Rammschiffe. Einer von Golwyths Männer gibt Euch ein Pferd, damit Ihr so schnell wie möglich dorthin reiten könnt. Sobald Ihr die Schiffe gefunden habt, sagt Ihr den Kapitänen, dass ich Euch geschickt habe.« Er zog einen kleinen, hellblauen Wimpel aus einer Innentasche und reichte ihn Keren. »Sie werden dieses Zeichen von Yareds Bundesgenossen erkennen. Wenn Ihr Euch ausgewiesen habt, sagt ihnen, sie sollen über den See zur Stadt rudern und dieses Brunn-Quell-Schiff angreifen. Sie können es vielleicht nicht versenken, aber möglicherweise aufhalten und so mehr Unschuldigen die Flucht aus dem Brückenbezirk ermöglichen.«
Keren starrte mit hasserfüllten Blicken auf das Brunn-Quell-Schiff. Dann stopfte sie den Wimpel in ihr Wams und nickte Medwin zu.
»Ich werde Euch nicht enttäuschen«, versicherte sie ihm, und wandte sich dann an Golwyth, der sie zu einer Gruppe seiner Leute führte, die neben ihren Pferden standen. Kurz darauf galoppierte sie davon, überquerte die große Brücke zum Strand und bog dort auf die Küstenstraße nach Süden ab.
»Ihre Sicherheit liegt Euch sehr am Herzen«, bemerkte Händlerprinzipal Golwyth. »Habt Ihr eigene Kinder?« »Hm?« Medwin wurde von dieser Frage überrascht. »Ah, verstehe. Nein … nein, obwohl ich einmal fast geheiratet hätte. Vor sehr langer
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