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02 - Schatten-Götter

02 - Schatten-Götter

Titel: 02 - Schatten-Götter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cobley
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letztendlichen Sieg vorauszusagen … Aber das Problem an den Traumvisionen war, dass sie stets mehrdeutig waren, sodass nur ein Genie oder ein Wahnsinniger aus ihnen schlau wurde, und Atroc hatte nie danach getrachtet, mehr als nur die Hälfte von beidem gleichzeitig zu sein. Er erhob sich aus seiner unbequemen Haltung und blies die Binsenlichter eins nach dem anderen aus. Yasgur würde zweifellos sehr bald nach ihm rufen …
    Es klopfte an der Tür.
    »Meister Atroc, ich wurde von Lordregent Yasgur gesendet, um Euch zu bitten, zu ihm in die Aussichtskammer des Nachtfrieds zu kommen.«
    Er lachte leise und räusperte sich. »Ich horche und gehorche«, sagte er laut. »Informiert den Lordregenten, dass ich seiner Bitte so rasch nachkommen werde, wie es mir meine alten Knochen erlauben.«
    Atroc grinste noch immer, als sich die Schritte des Boten entfernten. Er sammelte die Kräuterbündel zusammen, die jetzt nur noch aus verkohlten Zweigen bestanden, und warf sie in den kalten Kamin. Vielleicht war es das Beste, seine Träume für sich zu behalten, wenigstens, bis er ihre Bedeutung genauer kannte. Denn auch wenn Prinz Yasgur zweifellos einen Hauch von Wahnsinn aufwies, zeigte er nur selten einen Anflug von Genie, wenn es darum ging, Rätsel zu lösen.
    Sie trieb in befremdlichem Schweigen dahin, während ihre Erinnerungen und Gedanken hinter ihr herschwebten, nagend, zerrend, beschämend. Dies war ein zeitloser Ort, ein Ort des Nicht-Denkens, des Nicht-Handelns und daher auch ein Ort ohne Schmerzen. Dennoch folgten ihr alle gespenstischen Fetzen ihres Lebens, hartnäckige Geister, die sich standhaft weigerten, sich in dem fließenden Schweigen aufzulösen. Obwohl sie geglaubt hatte, deren quälende Anwesenheit aus ihrem Verstand gebannt zu haben, kehrten sie unaufhörlich wieder, drängten sich ihr auf, oder bildeten Phantome, die zu beängstigend waren, um darüber nachzudenken. Als eine dieser alten, hartnäckigen Erinnerungen, ein Bildnis von ihr selbst, sich vom Rest absonderte und außer Sicht geriet, empfand sie ein Gefühl von Genugtuung. Doch kurz darauf kehrte es zurück, tauchte aus der Tiefe empor und brachte eine Reihe dunklerer, unheilvollerer Erinnerungen mit sich. Ihr Bildnis wirkte gelöst und leicht amüsiert, und als es auf sie zukam, versuchte sie, sich abzuwenden und den Kontakt zu vermeiden, aber es gelang ihr nicht. Dieses herumirrende Fragment von ihr selbst löste eine Kette von Erinnerungen aus, und sie selbst stürzte in eine dunkle Geschichte.
    Am Anfang drehte sich die Welt in der Finsternis der Großen Wasser der Nacht. Dann kamen der Vater-Baum und die Erden-Mutter, obwohl sie damals noch andere Namen trugen, und brachten Tageslicht und Jahreszeiten, Aussaat und Ernte. Sie sorgten dafür, dass die Herden der Bestien ihre Gesichter zur Sonne erhoben und menschlich wurden. Die Menschen teilten sich in verschiedene Stämme auf und lauschten den Unterweisungen von der Erden-Mutter und dem Vater-Baum, und beteten sie an, während die Stämme gediehen und sich vermehrten.
    Dann trat der Herr des Zwielichts aus dem Brunnen der Leere. Edelmut stand auf seine Stirn geschrieben, er hatte Freude im Blick, ein Lächeln auf seinen Lippen und ein Geschenk für die Erden-Mutter in seinen Händen. Es war der Mutterkeim, ein wundersames Artefakt, gleichzeitig der Schlüssel und die Tür zu einem Reich voller Leben und Wachstum und all der grünen Fruchtbarkeit, welche die Erden-Mutter so liebte. Der Herr des Zwielichts versuchte die beiden anderen Götter zu überzeugen, die Völker der Menschen erniedrigt und unbelehrt zu lassen, und er sagte, dass Lernen und Wissen ihnen nur Schmerz und Leiden bringen würde. Die Erden-Mutter lauschte und stimmte ihm zu, der Vater-Baum jedoch weigerte sich, dies zu glauben, und er lebte fortan unter den Menschen.
    Während der Herr des Zwielichts und die Erden-Mutter den Bau großer Tempel zu ihren Ehren beaufsichtigten und die Hingabe ihrer zahllosen Anhänger genossen, fand der Vater-Baum heraus, dass Schmerz und Leiden auch ohne Lernen und Wissen existieren. Also schuf er das Kristallauge, damit Heiler heilen, Kinder leben und die Weisheit sich verbreiten konnte. Das verärgerte den Herrn des Zwielichts und auch die Erden-Mutter. Sie kamen zu ihm und wollten ihn zwingen, es ungeschehen zu machen, aber er hatte das Kristallauge bereits dem weisesten Mann der Stämme zum Geschenk gemacht. Der wiederum benutzte es, um viele willige Schüler darin zu unterrichten, wie

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