02 - Schatten-Götter
Dein Gesicht hat mich all die Tage und Stunden verfolgt.«
Er stand geschmeidig auf, drehte sich um und starrte zu Suviel hoch. Sie sah in seine Augen, und ein Schatten verdunkelte ihre Freude. Es waren nicht die Augen Ikarno Mazarets.
»Du siehst es, hab ich Recht?« Der Geistschatten zog ein schimmerndes, schlankes Schwert aus der Scheide, während er die Rampe hinaufging. »Du weißt, dass ich nur sein Ebenbild bin, eine bloße Reflektion, aus einem Spiegel gepflückt. Nun, wer sagt, dass ein Bildnis dem Original nicht überlegen sein kann?« Sein Lächeln verzerrte sich anzüglich. »Immerhin habe ich ihn getötet. Oh ja, er war gerissen, das muss ich ihm lassen. Er hat uns gegeneinander aufgehetzt, was von einer bemerkenswerten Fähigkeit zu Hinterlist und Tücke spricht. Am Ende war jedoch ich es, der ihn mit seinem eigenen Schwert durchbohrte und ihn zurückließ, auf dass er sein Leben im Sand ausblute, während ich selbst hierher zurückkehrte …«
Suviel wich langsam zurück und bereitete in ihrem Geist einen Gedankengesang vor, um den Geistschatten zu verwirren. Sie hoffte, dass die Aura des Brunn-Quell ihn nicht störte. In diesem Moment glitt eine Hand über den Rand der Rampe, umfasste den Knöchel des Geistschattens und riss ihn zur Seite. Als der Schatten mit rudernden Armen und Beinen zu Boden stürzte, sprang eine in Braun gekleidete Gestalt auf die Rampe und griff ihn mit einem langen, geraden Breitschwert an. Sie holte aus und ließ die Waffen hinuntersausen. Der Mazaret-Schatten schrie auf, wand sich auf dem Boden und blieb reglos liegen.
Die braungekleidete Gestalt erhob sich und blieb breitbeinig über dem Leichnam stehen. Furcht durchzuckte Suviel, als sie in die tränenüberströmten Gesichtszüge von … sich selbst starrte.
»Ich wollte dich sehen.« Die Stimme ihres Geistschattens bebte. »Ich musste herausfinden, warum er dich lieben konnte, nicht jedoch mich… Jetzt kann er keine von uns mehr lieben, da dieser Abschaum ihn getötet hat. Ich sah, wie es geschah und habe anschließend sein Schwert an mich genommen.« Ihr Abbild bückte sich und hob das Schwert hoch, in das Suviel die Rune der Leere für Ikarno eingraviert hatte. Der Leichnam des Geistschattens zu ihren Füßen löste sich in einer dichten, weißen Dampfwolke auf, die langsam die Rampe hinunterzog. »Ich wusste, dass er starb. Da war so schrecklich viel Blut…«
»Es braucht schon mehr als einen Kratzer, um mich zu töten.« Bei der heiseren Stimme hämmerte Suviels Herz heftig in ihrer Brust.
Von einer Senke jenseits der Rampe näherte sich eine große Gestalt in einer fließenden, grauen Robe. Sie schwankte, während sie sich auf einen zerbrochenen Speer stützte. Suviel und ihr Geistschatten beobachteten, wie er mit langsamen, sichtlich schmerzerfüllten Schritten heran kam, bis er den Fuß der Rampe erreichte. Dort versagten seine Beine ihm den Dienst, und er sank auf die Knie. Suviel schrie auf, stürzte an dem Geistschatten vorbei zu Mazaret und hockte sich neben ihn.
»In Wahrheit spüre ich, wie der Tod mich umfängt«, keuchte Mazaret.
»Nein, ich werde dich dem Tod nicht überlassen!«, widersprach sie störrisch und zerrte an seiner Hand, mit der er ein blutdurchtränktes Tuch auf seine Seite drückte.
»Du bist es«, sagte er staunend. »Nach all dem Leid, all diesen bloßen Schatten von dir … Bist du nun endlich da, meine Liebste.«
Er sog scharf den Atem ein, und Suviel erkannte an seinem Blick, welche Schmerzen er ertragen musste. Ohne zu zögern schloss sie die Augen, konzentrierte sich auf das Kristallauge, getrieben von Liebe und Verzweiflung, schöpfte von seiner Kraft, seiner Macht und dem Wissen, das darin enthalten war. Sie tauchte tief in Mazarets Körper ein, folgte dem Lauf seines Blutes, den Wellen des Schmerzes bis zu ihrer Quelle, einer schrecklichen Schwertwunde, deren vernichtende Bahn die unteren Rippen an der rechten Seite durchdrungen hatte, bevor sie am Rücken austrat. Suviel zwang die getrennten Kanäle und Nervenbahnen zusammen, vereinte die Muskeln, versiegelte die aufgeschlitzten Wände der Arterien und Venen und betäubte den glühenden Schmerz. Zögernde Schritte näherten sich ihr, und im nächsten Moment hörte sie das Knarren von Bögen, die gespannt wurden.
»Bleib stehen, Geistschatten!«, ertönte Yasgurs Stimme. »Leg das Schwert nieder und komm die Rampe herauf!«
Suviel sah unter ihren halbgeschlossenen Lidern aus den Augenwinkeln ihren Geistschatten, der
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