02 - Schatten-Götter
einige Meter von ihr entfernt stand. Tränen rannen über das fahle Gesicht. Der Schatten hielt das gravierte Schwert immer noch in einer Hand. Hinter ihm, am oberen Ende der Rampe, hatten Dutzende von Bogenschützen der Mogaun Aufstellung genommen und zielten auf die Gestalt.
»Es gibt keinen Pfad in diesem Reich, über den ich wandeln könnte«, sagte der Geistschatten. »Der Herr dieses Ortes naht, und ich will ihm nicht länger als Instrument dienen.« Mit diesen Worten hob es die freie, linke Hand und zog mit einer blitzschnellen Bewegung die Schneide des Schwertes über die Handfläche. Dann wiederholte der Suviel-Schatten dieselbe Prozedur an der rechten Hand. Anschließend setzte er sich ruhig an den Fuß der Rampe, kehrte den Mauern von Keshada den Rücken zu und schloss die Augen.
Suviel verfolgte dies mit einem unguten Gefühl, während sie über die Worte des Geistschattens nachdachte. Als sich seine Hülle in dichtem Dampf auflöste, bemerkte sie, dass Mazaret sie traurig beobachtete. Sie streckte die Hand aus und strich mit einer zärtlichen Bewegung über sein Haar. Er sah sie an, nahm ihre Hand und küsste sanft ihre Handfläche. Die Bogenschützen entspannten ihre Bögen, und der anschwellende Lärm im Korridor verriet, dass nun das Heer Besh-Daroks anrückte.
»Es scheint, als hättest du gleich eine ganze Armee mitgebracht«, meinte Mazaret. »Sehe ich da unter den Kämpfern auch Mogaun-Krieger?«
»Diese Geschichte«, erwiderte Suviel, »ist länger und komplizierter als ein Stammbaum der Dalbari. Sie kann warten. Wichtiger ist die Frage, wie du dich fühlst.«
»Der Schmerz ist verschwunden.«
»Gut. Wir haben viel zu tun. Wir müssen Alael finden …«
»Als die Maskierten mich noch für einen Geistschatten hielten, sagte mir einer, dass sie eine Frau und einen Mann gesehen hätten, die durch diese Schlucht dort in die Wüste hinausgelaufen wären.« Mazaret deutete mit der Hand in die Richtung des Spaltes.
»Wie lange ist das her?«
»Vielleicht zwei oder drei Stunden.«
Suviel stöhnte, während Mazaret sich vorsichtig aufrichtete und sie dann ebenfalls hochzog. »Zu Fuß können sie nicht sehr weit gekommen sein«, vermutete er.
Suviel schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns im Reich des Herrn des Zwielichts«, erwiderte sie. »Entfernungen und Richtungen gleichen nicht denen, wie wir sie aus unserer Welt kennen.«
»Dann sollten wir so schnell wie möglich Kundschafter aussenden, hm?«
Sie lächelte und nickte. Mehr konnten sie tatsächlich nicht tun. Außer vielleicht zur Leere zu beten, ihnen bei dem Versuch zu helfen, mit dem Kristallauge und dem Mutterkeim zum Brunn-Quell zu gelangen, bevor es zu einer Begegnung zwischen der Erden-Mutter und dem Herrn des Zwielichts kam. Wenn ihnen das gelang, und falls der Vater-Baum irgendwie den Stab der Leere durch seine geheimnisvollen Verbündeten an diesen Ort bringen konnte, würde die Bürde des letzten Gefechts auf ihr lasten.
Ein Kampf, der sehr wahrscheinlich mit ihrer Vernichtung enden würde, ihrem unwiderruflichen, unvermeidlichen zweiten Tod.
Der Herr der Schatten trug seinen Angriff auf den Fried von Rauthaz mit makellosem Zeitgefühl und rücksichtloser Brutalität vor. Er öffnete am Nordende des Großen Ganges eine Vielzahl von Seitenportalen, von denen jedes zu einem Knotenpunkt der Verteidiger führte. Die tausenden von Maskierten, die Thraelor aus Casall mitgebracht hatte, waren in der Lage, schnell und mit präziser Taktik eine Garnison zu überwinden, deren Zahl die ihre beinahe um das Vierfache überstieg. Als seine Fußtruppen und die Reiterei in Position waren, gab der Herr der Schatten den Befehl zum Angriff. Einige Minuten lang hallte der Lärm zahlreicher Kämpfe durch den Großen Gang, dann schlössen sich die Portale hinter den letzten Maskierten, und er stand allein regungslos in dem sanften, silbrigen Dämmer und lächelte, als gingen ihm erfreuliche Gedanken durch den Kopf. Dann setzte er sich Richtung Rauthaz in Bewegung.
Noch weit vor den Untergeschossen der Festung öffnete er ein weiteres Portal und durchquerte es mit einem gelassenen Schritt. Er führte ihn auf die verschneiten Bastionen der äußeren Mauer, die den Fried umringte. In einem der ummauerten inneren Höfe wurde noch gekämpft, während in der Stadt selbst blankes Chaos herrschte. Aus geplünderten Lagerhäusern quollen dicke Rauchwolken auf. Der Herr der Schatten schuf ein weiteres Portal und schritt hindurch auf…
… ein hohes,
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