02 Titan
der Dämmerung in der Hoffnung aus, mehr über die Ereignisse zu erfahren. Unter ihnen entdeckte ich viele Freunde und Familienmitglieder der Angeklagten. Vor allem Marcus Antonius fiel mir auf, der von Gruppe zu Gruppe ging und um Rückhalt für seinen Stiefvater Sura warb.
Die Rede, die Cicero später veröffentlichte, unterschied sich deutlich von der, die er tatsächlich gehalten hat – ein Umstand, auf den ich zu gegebener Zeit noch zurückkommen werde. Weit davon entfernt, das Loblied der eigenen Taten zu singen, erstattete er umfassend und nüchtern Bericht über die Geschehnisse, wobei seine Darstellung fast identisch mit der war, die er gerade dem Senat gegeben hatte. Er erzählte der Menge von der Absicht der Verschwörer, einen Pakt mit den Galliern zu schließen, und von dem Hinterhalt auf der Milvischen Brücke. Dann schilderte er
das Öffnen der Briefe und wie die Angeklagten darauf reagiert hatten. Das Schweigen, mit dem die Menschen sich Ciceros Rede anhörten, war entweder verzückt oder verdrossen, je nachdem, wie der Einzelne sie deutete. Erst als Cicero verkündete, dass der Senat in Würdigung seiner Leistungen dreitägige Feierlichkeiten für das ganze Land angeordnet habe, brach die Menge doch noch in Beifall aus. Cicero wischte sich den Schweiß vom Gesicht und winkte strahlend in die Menge, doch war er sich wahrscheinlich im Klaren darüber, dass der Jubel mehr den Feiertagen als ihm selbst galt. Er beendete seine Rede, indem er auf die große Statue des Jupiter zeigte, die erst am Morgen auf seine Weisung hin aufgestellt worden war, und sagte: »Ist nicht allein die Tatsache, dass die Statue genau in jenem Augenblick errichtet wurde, als auf meinen Befehl hin die Verschwörer und die Zeugen über das Forum zum Tempel der Concordia gebracht wurden, ein eindeutiger Beweis für das Eingreifen von Jupiter Optimus Maximus? Würde ich behaupten, ich ganz allein hätte ihre Pläne vereitelt, so würde ich zu viel des Verdienstes mir selbst zuschreiben. Es war Jupiter, der machtvolle Jupiter, der sie vereitelt hat. Es war Jupiter, dem die Ehre gebührt für die Rettung des Kapitols, dieser Tempel, der ganzen Stadt und von euch allen.«
Der respektvolle Applaus, mit dem diese Sätze aufgenommen wurden, galt zweifellos mehr der Gottheit als dem Sprecher, aber wenigstens verlieh er Cicero eine Aura von Würde, als er vom Podium herabstieg. Klugerweise hielt er sich nicht länger auf dem Forum auf. Sobald er die Stufen hinuntergegangen war, schirmten seine Leibwächter ihn ab, und durch die Gasse, die uns die Liktoren bahnten, schoben wir uns durch die drängelnde, unruhige Menge in Richtung Quirinal. Ich erwähne dies, um zu verdeutlichen, dass die Lage in Rom bei Einbruch der Nacht weit davon entfernt war, stabil zu sein, und dass Cicero keineswegs eine so klare
Vorstellung über sein weiteres Vorgehen hatte, wie er später vorgab. Gern wäre er nach Hause gegangen und hätte sich mit Terentia beraten, aber wie es der Zufall wollte, war dies der einzige Tag in seinem ganzen Leben, an dem ihm das Betreten des eigenen Hauses verwehrt war: Während der nächtlichen Riten für die Bona Dea war es keinem Vertreter des männlichen Geschlechts gestattet, sich unter dem gleichen Dach wie die Priesterinnen des Kultes aufzuhalten. Selbst der kleine Marcus musste das Haus verlassen. Und so gingen wir die Via Salutaris hinauf zum Haus von Atticus, wo für den Konsul das Nachtlager bereitet war.
Das Haus wurde von bewaffneten Soldaten bewacht, und alle möglichen Personen – Senatoren, Ritter, Beamte der Staatskasse, Liktoren, Boten – gingen in dem ständig überfüllten Atrium ein und aus. Cicero erteilte verschiedene Befehle zum Schutz der Stadt. Außerdem sandte er Terentia eine Botschaft, in der er ihr schilderte, was tagsüber geschehen war. Dann zog er sich in die ruhige Bibliothek zurück und versuchte sich darüber klarzuwerden, wie er weiter mit den fünf Verschwörern verfahren sollte. In den vier Ecken des Raumes standen mit frischen Blumen bekränzte Statuen von Aristoteles, Platon, Zenon und Epikur, die ungerührt auf den Grübelnden herabblickten.
»Wenn ich die Hinrichtung der Verschwörer gutheiße, werden mich ihre Anhänger für den Rest meiner Tage verfolgen – du hast ja gesehen, wie finster mich die Menge angestarrt hat. Andererseits, wenn ich sie einfach ins Exil ziehen lasse, werden die gleichen Anhänger pausenlos für ihre Rückkehr agitieren. Nie werde ich mich sicher
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