02 Titan
Gesichtsausdruck konnte ich aber nicht erkennen. Es war düster im Innern des Tempels, auch an sonnigen Tagen. Das Licht des Winternachmittags begann schnell zu verblassen, und selbst die Gesichter ganz in meiner Nähe konnte ich kaum noch deutlich sehen.
»Ich habe einen Vorschlag zu machen!«, rief Cicero und klatschte in die Hände, um die Ordnung wiederherzustellen. »Ich habe einen Vorschlag, Senatoren!« Schließlich ebbte der Lärm ab. »Es liegt auf der Hand, dass wir über das Schicksal dieser Männer heute nicht mehr befinden können. Deshalb müssen sie über Nacht unter Bewachung bleiben,
bis wir uns darauf verständigen können, wie weiter mit ihnen zu verfahren ist. Sie alle am selben Ort festzuhalten, würde zu einem Befreiungsversuch geradezu einladen. Was ich deshalb vorschlage, ist Folgendes: Jeder Gefangene wird dem Gewahrsam eines Senatsmitglieds mit prätorianischem Rang unterstellt. Gibt es irgendwelche Einwände dagegen?« Schweigen. »Sehr gut.« Cicero schaute sich mit zusammengekniffenen Augen im Halbdunkel des Tempels um. »Wer bietet sich freiwillig für die Aufgabe an?« Niemand hob die Hand. »Senatoren, es besteht keinerlei Gefahr, darf ich um Freiwillige bitten? Jeder Gefangene steht unter Bewachung. Quintus Cornificius«, sagte er schließlich und zeigte auf einen ehemaligen Prätor mit makellosem Ruf, »wärst du so gut, die Verantwortung für Cethegus zu übernehmen?«
Cornificius ließ den Blick über seine Kollegen schweifen, dann stand er auf. »Wenn das dein Wunsch ist, Konsul«, antwortete er zögernd.
»Spinther, nimmst du Sura?«
Spinther stand auf. »Ja, Konsul.«
»Terentius … würdest du Caeparius in deinem Haus unterbringen?«
»Wenn es der Wille des Senats ist«, erwiderte Terentius mit mürrischer Stimme.
Auf der Suche nach weiteren möglichen Aufpassern blieb Ciceros Blick an Crassus hängen. »Nebenbei bemerkt, Crassus«, sagte er, als wäre ihm dieser Gedanke gerade jetzt gekommen, »womit könntest du besser deine Unschuld beweisen – nicht mir, der ich keinen Beweis benötige, sondern den wenigen, die möglicherweise Zweifel hegen – als dadurch, dass du die Obhut über Capito übernimmst? Und da wir schon dabei sind … Caesar, du bist designierter Prätor, du könntest doch Statilius im Amtssitz des Pontifex Maximus unterbringen?« Crassus und Caesar starrten ihn mit offenem Mund an. Was konnten sie schon tun, als zustimmend
zu nicken? Sie saßen in der Falle. Ablehnung wäre gleichbedeutend mit einem Schuldeingeständnis gewesen, und ihren Gefangenen die Flucht zu ermöglichen ebenfalls. »Dann wäre das geklärt«, verkündete Cicero. »Ich vertage die Sitzung auf morgen.«
»Einen Augenblick noch, Konsul!« Die scharfe Stimme gehörte Catulus, der sich mit vernehmbarem Knacken seiner Knie erhob. »Senatoren«, sagte er, »bevor wir uns für die Nacht nach Hause zurückziehen, um darüber nachzudenken, wie wir morgen abstimmen werden, halte ich es für unerlässlich, Anerkennung dem einen Mann in unseren Reihen zu zollen, der unbeirrbar seine Politik vertreten hat, der unbeirrbar für sie gekämpft hat und sich auch, wie die Ereignisse bewiesen haben, als Mann von unbeirrbarer Weisheit erwiesen hat. Deshalb möchte ich folgenden Antrag einbringen: ›In Anerkenntnis der Tatsache, dass Marcus Tullius Cicero die Stadt Rom vor dem Niederbrennen, ihre Bürger vor der Abschlachtung und Italien vor dem Krieg bewahrt hat, verfügt dieses Haus dreitägige öffentliche Dankgebete an jeder heiligen Stätte für alle unsterblichen Götter, dass sie uns die Gunst erwiesen haben, uns in solcher Zeit einen solchen Konsul zu schicken.‹«
Ich war sprachlos. Auch Cicero war ziemlich überwältigt. Das war das erste Mal in der Geschichte der Republik, dass öffentliche Dankgebete angeordnet wurden, die nicht einem siegreichen General galten. Es war überflüssig, den Antrag zur Abstimmung zu stellen. Das Haus erhob sich und entschied per Akklamation. Nur einer blieb wie erstarrt sitzen, und das war Caesar.
KAPITEL XI
N un komme ich zum Dreh- und Angelpunkt meiner Geschichte, um den das Leben Ciceros und vieler von uns für alle Zeiten kreisen sollte – die Entscheidung über das Schicksal der Gefangenen.
Als Cicero den Senat verließ, klang ihm der Beifall noch in den Ohren. Während die Senatoren nach ihm aus dem Tempel strömten, überquerte er umgehend das Forum und bestieg die Rostra, um dem Volk Bericht zu erstatten. Hunderte von Bürgern harrten in
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