02 Titan
sagte ich mit besänftigender Stimme. Doch dann schoss mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. »Worüber weiß er Bescheid?«
»Über die Briefe.«
»Welche Briefe?« Sositheus antwortete nicht. »Du meinst die anonymen Briefe? In denen vor Gewalttätigkeiten in Rom gewarnt wird? Die hast du geschrieben?« Er nickte. »Woher weiß Crassus das?«, flüsterte ich.
»Von mir.« Seine schwache, klauenartige Hand kratzte mir über den Arm. »Du bist nicht wütend auf mich, oder?«
»Nein«, sagte ich und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. »Er hat dich eingeschüchtert, oder?«
»Er hat gesagt, dass er es schon wüsste.«
»Du meinst, er hat dich reingelegt?«
»Es tut mir so leid.« Er stöhnte laut auf – ein Geräusch, das sich bei einem geschwächten Menschen wie ihm furchtbar anhörte – und er zitterte am ganzen Leib. Die Augenlider senkten sich, dann riss er die Augen noch ein letztes Mal weit auf und schaute mich mit einem Blick an, den ich nie vergessen habe – in seinen vorquellenden Augen tat sich ein Abgrund auf, und er sank in meine Arme und wurde bewusstlos. Ich war entsetzt, es war, als blickte ich in einen pechschwarzen Spiegel, in dem ich nichts als Leere sah, und ich erkannte in diesem Moment, dass ich genauso sterben würde wie Sositheus, kinderlos und ohne eine Spur meiner Existenz zu hinterlassen. Von da an war ich doppelt entschlossen, all die geschichtlichen Ereignisse, deren Zeuge ich wurde, niederzuschreiben, so dass mein Leben wenigstens diesem kleinen Zweck gedient haben würde.
Sositheus hielt die Nacht und den nächsten Tag noch durch, und am letzten Abend des Jahres starb er. Ich ging sofort nach oben zu Cicero.
»Der arme Junge«, sagte Cicero. »Sein Tod betrübt mich mehr, als es der Verlust eines Sklaven eigentlich dürfte. Sorge dafür, dass seine Bestattung der Welt zeigt, wie sehr ich ihn geschätzt habe.« Er wandte sich wieder seinem Buch zu, doch als ich keine Anstalten machte zu gehen, fragte er: »Was ist?«
Ich steckte in der Klemme. Ich wusste instinktiv, dass Sositheus mir ein großes Geheimnis anvertraut hatte, aber ich konnte mir nicht völlig sicher sein, ob es stimmte oder nur seinem Fieberwahn geschuldet war. Außerdem schwankte ich zwischen meiner Verantwortung gegenüber dem Toten und meinen Pflichten gegenüber den Lebenden – sollte ich das Geständnis meines Freundes achten oder Cicero warnen? Schließlich entschied ich mich für das Letztere. »Es gibt da etwas, was Ihr wissen solltet«, sagte ich. Ich zog meine
Wachstafel hervor und las ihm Sositheus’ letzte Worte vor, die ich vorsichtshalber notiert hatte.
Während ich sprach, stützte Cicero sein Kinn auf die Hand und schaute mich durchdringend an. Als ich fertig war, sagte er: »Ich wusste, dass ich die Briefe dich hätte schreiben lassen sollen.«
Bis zu diesem Augenblick hatte ich es nicht glauben können. Ich bemühte mich, meine Bestürzung zu verbergen. »Und warum habt Ihr sie nicht mich schreiben lassen?«
Er schaute mich wieder taxierend an. »Du bist verletzt, stimmt’s?«
»Ein bisschen.«
»Nun, das solltest du nicht. Es ist ein Lob für deine Anständigkeit. Für das dreckige Geschäft der Politik hast du manchmal zu viele Skrupel, Tiro, und so ein Betrug unter deinen missbilligenden Augen wäre mir schwergefallen. Dann hast du also nichts gemerkt?« Er schien ziemlich stolz auf sich zu sein.
»Nein, nicht das Geringste.« Das hatte ich tatsächlich nicht: Als ich mich an seine Überraschung erinnerte, als Crassus an jenem Abend mit Scipio und Marcellus auftauchte und die Briefe vorlegte, konnte ich nur staunen über Ciceros schauspielerische Fähigkeiten.
»Ich bedauere, dass ich dich so hintergehen musste. Allerdings hat sich unser alter Glatzkopf anscheinend nicht überlisten lassen – zumindest weiß er jetzt Bescheid.« Er seufzte wieder. »Armer Sositheus. Ich weiß ziemlich sicher, wann Crassus ihm die Wahrheit aus der Nase gezogen hat. Das muss an dem Tag gewesen sein, als ich ihn rübergeschickt habe, um die Eigentumsurkunde für das Haus hier abzuholen.«
»Ihr hättet mich schicken sollen.«
»Das hätte ich ja, aber du warst außer Haus, und sonst war keiner da. Er muss eine höllische Angst gehabt haben, als ihm der alte Fuchs das Geständnis entlockte. Wenn er mir
einfach alles erzählt hätte, dann hätte ich ihm die Last nehmen können.«
»Macht Ihr Euch keine Sorgen darüber, was Crassus unternehmen wird?«
»Warum sollte ich mir Sorgen
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