02 Titan
vorstellen konnte.
Das Wetter war schlecht, als wir in Antium ankamen, der Regen trieb in Böen vom Meer aufs Festland. Trotzdem setzte sich Cicero auf die Terrasse und schaute dort Stunde um Stunde über die donnernden Wellen zum grauen Horizont und versuchte einen Ausweg aus seiner Zwangslage zu finden. Schließlich, nach zwei Tagen oder so, zog er sich in die Bibliothek zurück. Sein Kopf war nun wieder klarer. »Was sind die einzigen Waffen, die mir zur Verfügung stehen, Tiro?«, fragte er und beantwortete die Frage gleich selbst. »Die da«, sagte er und zeigte auf seine Bücher. »Worte. Caesar und Pompeius haben ihre Soldaten, Crassus hat seinen Reichtum, Clodius seine Schläger auf den Straßen. Die einzigen Legionen, die ich habe, sind meine Worte. Durch die Sprache bin ich aufgestiegen, und durch die Sprache werde ich überleben.«
Und so begannen wir mit der Arbeit an einem Werk, das er »Die geheime Geschichte meines Konsulats« nannte – die vierte und letzte und bei weitem wahrhaftigste Version seiner Autobiografie, ein Buch, das die Grundlage seiner Verteidigung sein sollte, sollte er jemals angeklagt werden, ein Buch, das nie veröffentlicht wurde und auf das ich bei der Niederschrift dieser Memoiren zurückgegriffen habe. Darin beschrieb er in allen Einzelheiten die Beziehung Caesars zu Catilina, wie Crassus Catilina verteidigt, finanziert und schließlich verraten hatte, wie Pompeius seine engsten Untergebenen eingesetzt hatte, um die Krise zu verlängern und zu vertiefen, so dass er sie als Rechtfertigung dafür nutzen konnte, mit seiner Armee nach Hause zurückzukehren. Wir benötigten zwei Wochen für diese Zusammenstellung, von der ich, noch während wir daran arbeiteten, eine Abschrift machte. Als wir fertig waren, wickelte ich jede Papyrusrolle
des Originals erst in ein Leinenlaken, schlug sie anschließend in ein Öltuch ein und steckte sie in eine Amphore, die wir mit Wachs dicht verschlossen. Dann gingen Cicero und ich an einem Morgen, als alle anderen noch schliefen, in den an das Haus angrenzenden Wald und vergruben die Amphore zwischen einer Weißbuche und einer Esche. »Wenn mir etwas zustößt«, sagte Cicero, »grab die Amphore aus, und gib sie Terentia. Sag ihr, sie soll das Buch so einsetzen, wie sie es für richtig hält.«
Seiner Einschätzung nach hatte er nur noch eine einzige konkrete Hoffnung, wie er einem Prozess entgehen konnte: dass Pompeius’ Ernüchterung über Caesar zum offenen Bruch zwischen beiden führen würde. Angesichts ihres Charakters keine unsinnige Annahme, und so gierte Cicero ständig nach jeder noch so winzigen verheißungsvollen Nachricht. Alle Briefe aus Rom wurden sofort gelesen, und jeder Bekannte, der zur Bucht von Neapel unterwegs war, wurde eingehend befragt. Es gab Informationen, die ermutigend waren. Als eine Geste für Cicero hatte Pompeius Clodius gebeten, die Leitung einer politischen Mission nach Armenia zu übernehmen, anstatt für das Amt des Volkstribuns zu kandidieren. Clodius hatte jedoch abgelehnt. Daraufhin hatte sich der beleidigte Pompeius mit Clodius überworfen. Caesar hatte für Pompeius Partei ergriffen. Es kam zum Streit zwischen Caesar und Clodius, der sich zu der Drohung verstieg, wenn er erst einmal Volkstribun sei, dann würde er die vom Triumvirat durchgebrachten Gesetze für ungültig erklären lassen. Caesars Geduld mit Clodius war am Ende. Pompeius hatte Caesar einen Rüffel erteilt, dass er ihnen diesen nicht zu bändigenden patrizisch-plebejischen Bastard überhaupt aufgehalst habe. Es wurde sogar schon darüber getuschelt, dass die beiden großen Männer nicht mehr miteinander sprachen. Cicero war entzückt. »Merk dir meine Worte, Tiro: Jedes Herrschaftssystem, und sei es noch
so beliebt oder mächtig, geht schließlich unter.« Es gab Anzeichen dafür, dass der Niedergang dieser Herrschaft schon im Gang war. Und vielleicht wäre sie sogar zusammengebrochen, wenn Caesar nicht einen spektakulären Schritt unternommen hätte, um sie zu retten.
Wir erfuhren von seinem Coup am ersten Tag im Mai. Am Abend, nach dem Essen, Cicero war gerade auf dem Sofa eingedöst, traf ein Brief von Atticus ein. Ich sollte vorausschicken, dass wir zu jener Zeit in Formiae waren und dass Atticus für kurze Zeit in sein Haus in Rom zurückgekehrt war, von wo er Cicero mehr oder weniger täglich die neuesten Nachrichten aus Rom zukommen ließ. Natürlich war das kein Ersatz für persönliche Treffen, trotzdem kamen die beiden überein,
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