02 Titan
wieder zu Staub zerfallen. Kein Mensch, keine Ordnung, kein Zeitalter kann diesem Gesetz entrinnen; alles unter den Sternen muss zugrunde gehen; der härteste Felsen ist irgendwann ausgewaschen. Nichts bleibt außer den Worten. Eingedenk dieser Tatsache und in der erneuerten Hoffnung, dass ich lange genug leben möge, um meine Aufgabe zu erfüllen, werde ich nun die außerordentliche Geschichte von Ciceros Jahr als Konsul der römischen Republik erzählen und was ihm in den vier Jahren danach widerfuhr – eine Zeitspanne, die wir Sterblichen lustrum nennen, die für die Götter aber nicht mehr als ein Blinzeln ist.
KAPITEL II
A m nächsten Tag, dem Tag vor der Amtseinführung, schneite es – dichter Schneefall, wie er sonst nur in den Bergen vorkommt. Er hüllte die Tempel des Kapitols in weiches marmornes Weiß und überzog die ganze Stadt mit einer Decke, so dick wie die Hand eines Mannes. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen und habe trotz meines hohen Alters auch nie wieder von einem derartigen Vorkommnis gehört. Schnee in Rom? Das musste bestimmt ein Omen sein. Aber wofür?
Cicero hielt sich in seinem Arbeitszimmer auf. Neben ihm stand ein kleines Becken mit einem Kohlenfeuer, und er arbeitete wieder an seiner Rede. Er glaubte nicht an Menetekel. Als ich ins Zimmer stürmte und ihm von dem Schnee erzählte, zuckte er nur mit den Achseln. »Na und?« Als ich ihm vorsichtig den von den Stoikern vertretenen Standpunkt zur Verteidigung von Prophezeiungen darlegte – wenn es Götter gebe, dann müssten sie sich auch um die Menschen kümmern, und wenn sie sich um die Menschen kümmerten, dann müssten sie uns auch Zeichen ihres Willens senden –, fiel er mir lachend ins Wort: »Angesichts ihrer unvergänglichen Kräfte würden sich die Götter gewiss verständlicherer Ausdrucksformen bedienen als Schneeflocken! Warum schreiben sie uns keinen Brief?« Er wandte sich wieder zu seinem Schreibpult um und schüttelte kichernd
den Kopf über meine Leichtgläubigkeit. »Also wirklich, Tiro, kümmere du dich jetzt wieder um deine Aufgaben, und pass auf, dass mich niemand stört.«
Derart zurechtgewiesen, verließ ich das Zimmer, kontrollierte erst den Stand der Festzugsvorbereitungen zur Amtseinführung und nahm mir dann seine Korrespondenz vor. Damals war ich seit sechzehn Jahren sein Sekretär, und es gab keinen Bereich seines Lebens, ob öffentlich oder privat, mit dem ich nicht vertraut war. In jenen Tagen arbeitete ich gewöhnlich an einem Klapptisch, der vor seinem Arbeitszimmer stand, so dass ich ungebetene Besucher abwimmeln konnte und immer hörte, wenn er nach mir rief. Von diesem Platz aus konnte ich an jenem Morgen wahrnehmen, was sich im Haushalt abspielte: Terentia marschierte im Speisezimmer ein und aus, fuhr dabei die Mädchen an, weil ihr die Winterblumen für den neuen Status ihres Mannes nicht gut genug waren, und schimpfte den Koch aus, weil ihr der Speiseplan für das abendliche Essen nicht zusagte. Der kleine Marcus, der schon über ein Jahr alt war, tapste ihr auf wackeligen Beinen hinterher und krakeelte aufgeregt den Schnee an. Ciceros Augenstern Tullia, die inzwischen dreizehn war und im Sommer heiraten würde, übte mit ihrem Hauslehrer griechische Hexameter.
Ich war so mit Arbeit eingedeckt, dass ich erst nach Mittag wieder Gelegenheit fand, einen Blick vor die Tür zu werfen. Trotz der mittäglichen Stunde war die Straße leer. Es hing eine gedämpfte, unheilvolle Stimmung über der Stadt; es war so still wie um Mitternacht. Der Himmel war bleich, es hatte zu schneien aufgehört, und der Frost hatte den Schnee mit einer glitzernden weißen Kruste überzogen. Noch heute – wie eigenartig sind doch die Launen der Erinnerung im hohen Alter –, noch heute kann ich mich an das Gefühl erinnern, als ich mit meiner Schuhspitze die knackende Schneekruste durchbrach. Ich atmete noch einmal
tief die eiskalte Luft ein und wollte mich gerade umdrehen, um wieder in die Wärme zurückzukehren, als ich in der gedämpften Stille ganz leise das Schnalzen einer Peitsche und schreiende, stöhnende Männerstimmen hörte. Ein paar Sekunden später schwankte eine von vier livrierten Sklaven getragene Sänfte um die Ecke. Ein Aufseher, der neben ihnen hertrabte, schwang die Peitsche in meine Richtung.
»He, du!«, rief er. »Ist das Ciceros Haus?«
Als ich sagte, dass es das sei, rief er über die Schulter – »Das ist die Straße!« – und zog dem ihm am nächsten stehenden Sklaven einen
Weitere Kostenlose Bücher