02 Winter am Ende der Welt
Mal sahen.
Ich drücke ihm die Pfeffermühle in die Hand und sehe ihn mir genauer an. Ja, er sieht schon gut aus. Aber jetzt hier so vor meiner Haustür auch schon etwas normaler, ein ganz normaler Mann eben. Ich frage mich kurz, soll ich ihn einfach fragen, wo er damals herkam, oder soll ich das als Rätsel bestehen lassen? Der Mystery Man, der aus dem Nichts auftaucht. Aber weil die Mystik ja eh schon gelitten hat, weil er ja hier steht und so real ist, frage ich ihn, wo er wohnt. Und siehe da – er wohnt auf Johns Farm. Der verlassenen Farm zwischen Leiner River Trail und Campingplatz. Er ist Johns Großcousin oder Großneffe oder wie so entfernte Verwandte eben heißen, und er überlegt, ob man aus der Farm nicht einen historischen Ort machen könnte. Als Beispiel für eine Homestead, eine frühe Besiedelung von Weißen. Und in der Tat, das leuchtet sofort ein. Er lädt mich, uns, ein, doch mal vorbeizukommen, dann wird er uns die Farm zeigen. Dann geht er.
Und kaum ist er weg und ich habe gerade die Tür zugemacht, da klingelt es schon wieder und Alan steht vor der Tür.
Ich hole Clara. Das soll Clara selber regeln, da mische ich mich nicht ein.
Sie regeln ein bisschen und das Ergebnis ist: Alan schläft im Schlafsack auf einer Isomatte im Basement im Fernsehzimmer. Das ist kein Problem, denn die ganze Campingausrüstung von Anna und Jan ist ja noch hier im Haus. Paul und die Prinzessin bieten natürlich sofort das Doppelbett an, aber Clara und Alan sagen für ein Doppelbett besteht keine Notwendigkeit. Und Clara möchte Alan anscheinend auch nicht in ihrem Zimmer im zweiten Bett haben. Also das Basement.
Aber erstmal nutzen wir das Basement natürlich als Fernsehzimmer. Wir heizen den Ofen und machen es uns mit Himbeerbrause für die Prinzessin, Rotwein für Clara und mich, Bier für Paul und Alan, und Popcorn und Trailmix für uns alle auf und vor der Couch gemütlich. Der Pudel liegt mit vor der Couch und bekommt, was er immer bekommt, nämlich sein Prozac. Dazu sehen wir einen uralten Film.
Die Bibliothek hier hat theoretisch wirklich viele DVDs zum Ausleihen. Man bestellt sie und kommt auf eine Warteliste und da ist man dann auf Platz 185 oder so ähnlich und wartet, bis alle anderen, die vor einem auf der Warteliste sind, den Film gesehen haben. Und je besser der Film, desto höher der Platz auf der Warteliste. Logischerweise.
Oder man nimmt das, was praktisch da ist. Das sind die Sachen, die da einfach stehenbleiben, weil keine andere Bibliothek aus dem Vancouver Island Bibliotheksverband sie anfordert. Weil sie nämlich keiner bestellt. Weil sie keiner sehen will. Da stehen Sachen wie veraltete Ratgeber mit dem Namen Iß dich schlank und gesund aus den frühen sechziger Jahren, und Ob blond, ob braun mit Elvis Presley, auch aus den frühen Sechzigern. Da steht die Reise der Bella Coola Indianer nach Deutschland, ein Doku über eine Reise, die eigentlich keine wirkliche Reise war, sondern eine Art Auslandsjob, und die Indianer bekamen ein Gehalt und wurden bei Hagenbeck im Zoo ausgestellt. Und dann in anderen Städten rumgereicht. Aber weil sie nicht der Vorstellung entsprachen, die sich die Deutschen von den Indianern machten, mussten die Indianer Kostüme tragen, damit sie so aussahen, wie Indianer aussehen sollten. Aber das ist eine Geschichte für sich.
Für heute Abend haben wir Es geschah in einer Nacht von Frank Capra von 1934. Das ist ein schöner alter Film. Clara, Alan und ich kennen ihn natürlich, aber für Paul und die Prinzessin ist er neu.
Der Film ist mit Clark Gable und Claudette Colbert.
„Wusstet ihr, dass Clark Gable praktisch gezwungen wurde, die Rolle zu spielen?“, fragt Alan. „Sozusagen strafversetzt von MGM?“
Wussten wir nicht. Aber es hat sich gelohnt. Für Gable, weil er einen Oscar als bester Hauptdarsteller bekommen hat und für uns, weil wir einen schönen Film sehen können. Und der Film ist wirklich klasse. Auch die Prinzessin ist beeindruckt. Das ist für sie ja sowas wie Mittelalter, dabei ist es noch nicht mal hundert Jahre her. Und erst jetzt, mit den Augen der Prinzessin, sieht man so richtig, was damals alles anders war. Die Telefone hingen fest in der Wand. Wenn man jemandem eine schnelle Nachricht schicken wollte, ging man zum Telegrafenamt und ein Fräulein gab es durch, indem sie in einer bestimmten Reihenfolge auf Knöpfchen drückte. Ich bin mir sicher, die Lena hat in ihrem Leben noch kein Telegramm gesehen. Ja, ich weiß nicht mal, ob es
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