02 Winter am Ende der Welt
Telegramme überhaupt noch gibt. Die anderen wissen es auch nicht. Und selbst Paul hat noch nie eins bekommen, obwohl er nur ein paar Jahre jünger ist als wir.
Ich habe mal ein Telegramm bekommen.
Das ist natürlich schon sehr lange her. Von Jorge. Ich war dreiundzwanzig und studierte in Hamburg an der Uni romanische Sprachen. Warum? Es gefiel mir, ich hatte schon immer ein Faible für Sprachen. Und Romanistik klang gut. Da steckte Roman drin und Romantik und Romanze. Romanistik versprach Süden und Lebensart und Sommerabende mit Baguette, Käse und Rotwein.
Jorge war neunundzwanzig und hatte seine erste Dozentenstelle bei uns an der Uni und war damit mein Dozent. So haben wir uns kennengelernt. Wir waren ein paar Mal zusammen ausgegangen und hatten gerade die erste Nacht zusammen verbracht, da musste Jorge völlig überstürzt nach Lissabon, weil sein Vater krank wurde und er seiner Mutter helfen musste. Und da kam dieses Telegramm. Und es hatte nur ein einziges Wort. Saudade – Sehnsucht. Und dieses eine Wort drückte alles aus, was wir damals fühlten.
Und man sieht auch, was es damals alles nicht gab. Es gab keine Handys, kein Internet, keine Computer, kaum Autos. Da war nichts mit eben mal schnell irgendwohin fliegen oder fahren. Da war man tagelang unterwegs, wenn man von irgendwo in Amerika nach New York wollte. Da konnte ein anständiger Regenguss so eine Reise noch so richtig aufhalten. Die Autos waren offen und fuhren vierzig. Die Motels hatten keine Bäder im Zimmer und man musste morgens für ein Außenbadezimmer anstehen. Die Prinzessin staunt und staunt.
Dann kommt die schöne Szene, wo Clark Gable eine Wäscheleine im Motelzimmer spannt und eine Überdecke drüber hängt. Das ist die Trennwand für die Nacht, zwischen den beiden Betten.
„Das wäre doch auch eine Möglichkeit für euch gewesen“, sage ich zu Clara und Alan. Aber die beiden können da irgendwie nicht drüber lachen.
Am nächsten Tag gehen wir raus zu Johns Farm. Und damit wird das Wochenende der totale Trip in die Vergangenheit. Johns Farm wurde so ungefähr im gleichen Jahr gebaut, als Frank Capra seinen Film gedreht hat.
Wir stellen das Auto ab und laufen den Trail vom Campingplatz am Fluss entlang zu Johns Farm. Peppermint bleibt an der Leine. Alan erzählt von seiner Arbeit in LA. Die Prinzessin hängt an seinen Lippen. Hollywood, Schauspieler, Film-Premieren. Sie will wissen, ob er schon mal Promis getroffen hat. Ja, hat er. Sie will wissen, was er dreht. Clara und ich sehen uns kurz an. Aber Alan schafft es, Lena alles zu erklären, und doch bleibt es jugendfrei.
Und ich finde: der Alan ist ein wirklich netter Typ. Er sieht jetzt nicht so umwerfend aus auf den ersten Blick und schon gar nicht heute bei null Grad mit Brille, Pudelmütze und dickem Schal. Unspektakulär auf den ersten Blick, aber unglaublich anziehend auf den zweiten. Ein Mann fürs Leben.
Kein Wunder, dass Clara bis ans Ende der Welt geflohen ist, um diesem Mann zu entkommen. Clara, die sich bisher immer nur in verheiratete Männer verliebt hat. Clara mit ihrem Drang nach Unabhängigkeit. Da muss dieser Mann doch eine echte Bedrohung sein.
Der Abenteurer begrüßt uns.
„Ich heiße übrigens Carl“, sagt Carl und damit hat Mystery Man auch endlich einen Namen.
Carl setzt auf dem Eisenofen Wasser auf, für Tee, und dann zeigt er uns die Farm. Die Farm liegt am Fluss. Weit genug weg, so dass der Fluss über die Ufer treten kann, ohne die Gebäude zu erreichen, aber nah genug, dass man den Fluss als Wasserversorgung nutzen kann. Zum Baden, zum Wäschewaschen, zum Trinken, zum Kochen. Die Prinzessin ist beeindruckt und von Minute zu Minute froher, dass sie erst jetzt lebt und nicht damals.
Das Farmhaus ist aus Holzschindeln, die hat John Lawrence damals selber hergestellt. Vom Baumabsägen bis zum Schindelspalten, was für eine Arbeit! Das Dach ist aus grünem Metall, das hat er später mal ersetzen lassen und jetzt wird Carl es wieder runternehmen und wieder mit Holzschindeln decken, damit es authentisch wird oder traditionell oder historisch. Oder wie immer man das nennt. Carl hat auch die Fenster repariert, die Gläser waren alle zerbrochen, die Rahmen verwittert und ausgetrocknet. Jetzt sieht es wieder gut aus.
Aus dem Dach kommt ein Eisenschornstein und so eine anständige Ofen-Inpektion würde das natürlich nicht überstehen, aber das ignoriert Carl erstmal. Der Eingang ist mit altem Maschendraht eingezäunt, da soll jetzt eine Veranda
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