02 Winter am Ende der Welt
auflegt, lege ich auch auf und rufe dann bei Jorge an.
Aber Jeff legt nicht auf. Erst verhandeln sie darüber, was Jeff essen will, ob Truthahn oder Roastbeef, dann über die Größe der Portion. Jeff möchte eine ordentliche Portion, aber nur für eine Person. Und eine Nachspeise. Kathleen fragt ihn, lieber Blaubeer-Pie oder Apple Pie. Apple Pie, sagt Jeff, mit Vanilleeis. Auch eine Portion. Und da wird mir klar: Jeff ist auch alleine. Und womöglich gibt es furchtbar viele Leute, die über Weihnachten alleine sind, und dann wird das Gespräch privat. Hätte ich doch bloß aufgelegt. Jetzt geht es natürlich gar nicht mehr.
Kathleen sagt zu Jeff, es ist nun lange genug her und er muss einfach mal wieder anfangen zu leben. Und Jeff sagt, selbst wenn er wollte, hier im Dorf gibt es keine Frau für ihn. Und Kathleen sagt, da ist doch diese Ausländerin, diese Deutsche, die da in Spanien oder Portugal wohnt, die wäre doch was.
Und jetzt höre ich gebannt zu. Nicht, dass Jeff mein Typ wäre, aber was, wenn er mich jetzt ablehnt, dann wäre ich trotzdem geknickt. Geknickt drückt es gar nicht aus. Das würde mich treffen. Obwohl ich ihn ja auch ablehnen würde, wenn man zu mir sagen würde, der wäre doch was für dich. Jetzt nur nicht atmen oder niesen. Ich bleibe still, still, still. Ich atme flach. Ich höre gespannt zu. Was wird Jeff sagen?
„Diese Jasmin?“, sagt Jeff.
„Ja“, sagt Kathleen, „diese Jasmin, die macht doch einen netten Eindruck“.
„Ich weiß nicht“, sagt Jeff, „findest du?“
„Aber klar“, sagt Kathleen, „finde ich.“
„Ich weiß nicht“, sagt Jeff jetzt wieder.
Und ich presse die Lippen aufeinander, auf dass ich keinen Ton sage. Frechheit, das ist doch eine Frechheit.
„Deine Frau ist jetzt seit sieben Jahren tot“, sagt Kathleen. „Sieben Jahre sind eine lange Zeit“.
„Was ist mit dir“, sagt Jeff, „du bist doch auch alleine“.
„Ja, aber ich bin es gerne“, sagt Kathleen, „ich bin es freiwillig“.
„Ich auch“, sagt Jeff.
„Stimmt nicht“, sagt Kathleen, „du bist weder freiwillig alleine, noch bist du es gerne“.
„Aber das heißt nicht, dass ich mich irgendeiner Ausländerin an den Hals werfe, nur weil sie der einzige verfügbare weibliche Single hier ist“, sagt Jeff.
Also das ist doch. Also echt. Aber hallo. Ich fasse es nicht. Was bildet dieser Jeff sich eigentlich ein. Und was bitte schön heißt hier: verfügbar? Habe ich durch irgendwas, durch irgendeine und sei es noch so kleine Geste zu verstehen gegeben, dass ich verfügbar bin? Für Jeff?? Nein. Habe ich nicht. Ich lege auf. Ist mir egal, ob das jetzt jemand mitkriegt oder nicht. Ich gehe in den Cookshack. Kathleen ist am Telefon. Klar, weiß ich ja. Sie sagt (zu Jeff, weiß ich auch, aber Kathleen weiß nicht, dass ich weiß, aber ist im Grunde auch völlig egal): du, ich muss auflegen, da ist Kundschaft, und dreht sich zu mir um.
Ich lasse mir von ihr eine Lasagne einpacken. Und einen Blaubeer-Pie. Ohne Eis. Dafür mit Sahne.
„Kennst du eigentlich Jeff?“, fragt mich Kathleen.
„Klar“, sage ich. „Wir sind sogar auf Facebook befreundet.“
„Das sind wir ja alle“, sagt Kathleen. „Wegen The Road.“
Und ich denke, sagt sie jetzt noch was weiter dazu, aber sie sagt nichts weiter. Sie bringt mir mein Essen und packt die ganzen Alu-Dinger in eine Plastiktüte. Und dann wünschen wir uns Merry Christmas .
Ich steige in den dunkelblauen Van und fahre wieder nach Hause. Es ist dunkel. Um diese Jahreszeit wird es hier sehr früh dunkel. Ich fahre langsam die South Maquinna hoch – und da steht doch plötzlich ein Reh auf der Straße. Als es das Auto sieht, erstarrt es. Jetzt steht das Reh ganz still. Ich bleibe auch stehen. So sehen wir uns eine Weile an, das Reh und ich. Irgendwie sieht das Reh zart aus. Verletzlich. Unschuldig. Weiß ich jetzt auch, dass ich da menschliche Eigenschaften in ein Tier reininterpretiere. Aber trotzdem. Irgendwie rührt es mich. So ein kleines verletzliches Reh am Weihnachtsabend einsam auf der Straße.
Am nächsten Tag regnet es. Ich meine, es regnet ja viel und oft hier, kein Wunder, schließlich ist hier Regenwald, nicht wahr. Gemäßigter Küstenregenwald. Dafür ist Vancouver Island berühmt. Für die riesigen Douglas-Tannen und Sitka-Fichten. Für die mit grünen Flechten behangenen Äste. Ein Regenwald braucht die Nähe des Ozeans, er braucht Berge und er braucht tüchtig Niederschlag. Und den haben wir heute. Aber wie.
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