02 Winter am Ende der Welt
dann gleich wieder abgesetzt. Denn erstens sah es blöde aus und zweitens sind wir ja beide nicht mehr unter der Haube, nicht wahr.
Carl hatte gekocht, fantastisch übrigens. Der Mann versteht was vom Kochen und seine Gewürzkenntnisse gehen weit über die Pfeffermühle hinaus. Und richtiges Geschirr hat er jetzt auch. Im Laufe des Abends haben wir kalifornischen, chilenischen und kanadischen Rotwein verglichen, bis wir eigentlich nichts mehr auseinanderhalten konnten und die drei haben dazu Geschichten von The Road erzählt.
Die Geschichte von dem Möbellaster, der ins Rutschen gekommen ist und die ganzen Möbel sind den Berg runter geflogen und deswegen liegt bis heute ein Sofa irgendwo unten im Tal, gleich hinter Steep Hill. Die Geschichte von dem Laster mit den Trauben, die die italienischen Gastarbeiter gemeinsam gekauft hatten, um sich ihren eigenen Wein zu machen wie zu Hause in Italien, und der umgekippt ist, und damit waren die Trauben hin. Die Geschichte von dem Mann aus Toronto, der zum ersten Mal über The Road gefahren ist und einen Herzinfarkt bekommen hat und ins Tal gestürzt ist.
April hat erzählt, wie sie mal mit Christine und Steve in Steves Truck im Winter über den Pass gefahren sind, und plötzlich waren da Hirsche auf der Straße, vier riesige Hirsche, und Steve hat gebremst, und es war glatt, und sie sind von The Road abgekommen und der Truck ist zur Seite gerutscht und an der Kante hängengeblieben. Und da hat er dann auf der Klippe gehangen und gewippt und sie haben versucht, ganz ruhig zu sitzen und das Gewicht nach hinten zu verlagern, ohne sich zu bewegen. Steve hat gesagt, fünfundzwanzig Jahre auf The Road, und das ist ihm noch nie passiert, und Christine hat gebetet und April wurde heiß und kalt und sie war schon dabei, mit ihrem Leben abzuschließen. Und da hat sie ein Trupp Waldarbeiter entdeckt und die Waldarbeiter haben hinten am Truck gedrückt und ihn mit einem Ruck wieder an Land gezogen, hochgeflippt, sozusagen, und ihn damit wieder auf The Road gebracht. Und sie haben es alle überlebt. Sogar der Truck.
Jeff erzählt, er hatte mal ein Loch in seinem Auspuff von seinem Jeep, aber im Ort ist ja niemand, der sowas reparieren kann, also ist er in die Stadt gefahren, nach Campbell River, um den Jeep dort in die Werkstatt zu bringen, aber als er ankam, war das Geräusch weg und der Auspuff zu. War der Schlamm von The Road, der hatte sich auf das Loch gesetzt und die Hitze vom Auspuff hatte es sozusagen zugebacken. Und hält bis heute, sagt Jeff, hält bis heute, beste Auspuff-Reparatur aller Zeiten und schenkt uns noch mal vom chilenischen Rotwein nach.
Carl sagt, er hatte mal eine Reifenpanne, ganz oben auf dem Pass, gleich hinterm Bull Lake, und er konnte doch in der Tat den Kreuzschlüssel nicht finden. Und der ganze Van war voller Sachen, weil er in der Stadt gründlich eingekauft hatte, so wie man es hier eben macht. Und er musste alles rausnehmen und auf die Straße stellen. Und ihm war reichlich mulmig zumute. Hackfleisch, Honig, Milch – das sind ja alles Sachen, die Bären gerne fressen, und Bären können über weite Entfernungen riechen, kilometerweit. Und sein ganzer Kram stand da auf The Road. Das ganze Werkzeug und die Tüten mit den ganzen Lebensmitteln und die Gartengeräte für die Farm. Nur der Kreuzschlüssel – der war nicht dabei. Also hat er alles wieder eingepackt. Und musste auf The Road übernachten. Und es war super kalt, eine eisige Nacht, Temperaturen um null, aber zum Glück war er nicht alleine, es war nämlich eine Freundin dabei, und da konnten sie sich gegenseitig wärmen.
Und ich merke, tja, so eine Reifenpanne mit Carl, nachts, auf dem Pass, weiß gar nicht, ob ich das unter Unglück oder Glück abbuchen würde. Womöglich unter Glück.
Ich konnte nichts dazu beitragen. Keine Story von The Road. Nicht eine einzige. Ich bin nämlich mit dem Wasserflugzeug angereist, weil ich einfach so schnell und so weit wie möglich von Jorge weg wollte, irgendwohin, wo ich alleine sein und im Bett liegen und heulen konnte. Und dann bin ich hier nie mehr aus dem Ort rausgefahren, obwohl ich Annas Van habe. Ich kaufe die paar Sachen, die ich brauche, einfach hier im Laden im Dorf. Ich frühstücke montags meine Pfannkuchen in der Kirche, esse am Donnerstag die Pizza vom Pub, und gehe ab und zu bei Kathleen im Cookshack essen. Und meine Haare wasche ich immer noch mit Annas Pfefferminz-Shampoo.
Du bist noch nie über The Road gefahren?, fragte
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