02 Winter am Ende der Welt
Lissabon, Porto und Los Angeles sind weit weg. Und Vancouver klingt zwar nah, ist aber auch weit weg. Eine Tagesreise hin, eine Tagesreise zurück. Und Pauls Appartement ist ja winzig, das weiß ich, das hat die Prinzessin erzählt, da können gerade mal die Prinzessin und Paul schlafen, also müsste ich in einem Motel übernachten. Aber will ich Weihnachten alleine in einem Motel übernachten? Irgendwo in einer großen fremden Stadt? Nein. Nein, das will ich nicht. Aber was will ich dann?
III
Adler fliegen auch bei Regen. Das hätte ich nicht gedacht. Es regnet jetzt seit Tagen. Der Fluss ist braun-grün-undurchsichtig und so schnell, dass sich kleine weiße Schaumkronen bilden. Ein Weißkopfadler fliegt über den Fluss, braune Schwingen, weißer Kopf, gelber Schnabel.
Das sind keine weißen Weihnachten, sondern nasse Weihnachten. Nasse Weihnachten alleine. Ich fahre nirgendwo hin. Ich bleibe hier. Aber Nicoles Nachricht liegt mir ein bisschen auf dem Herzen und ich gebe mir einen Ruck und ziehe eine Regenjacke an und spanne den Regenschirm auf und gehe rüber zur Telefonzelle.
Ja, hier gibt es noch Telefonzellen. Ganz so wie bei Es geschah in einer Nacht . Eine Telefonzelle vor dem Laden, eine vor dem Cookshack, eine unten in der Marina. Weil die Handys hier nicht funktionieren, weil es ja keinen Empfang gibt, nicht wahr. Für die Touristen und die Leute, die keinen Festnetzanschluss haben, oder wie es hier so schön heißt: eine Landlinie. Ich habe keine Landlinie, deswegen kann ich Jorge keine Telefonnummer geben. Und deswegen werde ich mich jetzt bei ihm melden.
Ich wähle seine Nummer. Die ja eigentlich auch meine Nummer ist, wenn man es sich so recht überlegt. Unsere alte Nummer. Also seine jetzige. Also wessen auch immer – ich höre das Klingeln und dann meine Stimme: Das ist der Anschluß von Jasmin und Jorge Monteiro, wir sind im Moment nicht zu Hause, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.
Wir sind nicht zu Hause. In der Tat. Denn ich bin ja hier. Aber wo ist Jorge? Am Weihnachtsabend? Ich sehe auf die Uhr. Hier ist es zwölf Uhr mittags, dann ist es in Lissabon acht Stunden später. Also zwanzig Uhr. Man kann sich das gut merken. Wir sind hier acht Stunden zurück, weil Amerika ja viel später entdeckt wurde als Europa. Ganz einfach, nicht wahr?
Aber wo ist Jorge? Nicole hat doch geschrieben, dass er mit den Kindern feiern will, also mit ihr und Tiago. Ich sammel meinen Kram wieder ein, Portemonnaie, Telefonkarte, Handschuhe, so eine Telefonzelle ist schon ungemütlich, kein Wunder, dass die aus der Mode gekommen sind, spanne den Regenschirm auf und gehe wieder nach Hause. Ich werde zwei Stunden warten, und dann werde ich es nochmal versuchen. Und weil ich überhaupt nicht weiß, was ich tun soll, mache ich den Computer an und gucke, was alle anderen auf Facebook so treiben. Nicht viel los, die sind alle mit Weihnachten beschäftigt, nur ich nicht.
April hat ein süßes Foto von Peppermint mit Weihnachtsmütze reingestellt und mir wird ein bisschen weh ums Herz. Die kleine Peppermint. Aber hier – da ist eine Freundschaftsanfrage. Wer kann das sein? Ich sehe mir die Anfrage an. Eine Maria Teresa Candeias Monteiro möchte mit mir befreundet sein. Wer ist das denn. Kenne ich nicht. Aber dann macht es plötzlich Klick in meinem Kopf und ich weiß, wer es ist. Jorges Mutter. Na, das haut einen allerdings um. Die Frau ist Anfang achtzig. Mit achtzig auf Facebook.
Und so langsam reime ich mir zusammen, was da in Lissabon abgeht. Und das Szenario sieht vermutlich so aus: Mama Maria Teresa hat Jorge und die Kinder zum Essen am Weihnachtsabend eingeladen, weil die böse deutsche ausländische Frau ihren Sohn verlassen hat. Und jetzt will sie über Facebook mal nach dem Rechten sehen.
Eine Falle. Eine Facebook-Falle. Denn wenn ich nicht annehme, ist das ja sowas wie eine Ablehnung. Und wenn ich annehme, dann kann Dona Maria Teresa alle meine Aktivitäten sehen. Nicht, dass ich was zu verbergen hätte, aber trotzdem. Aber trotzdem. Es ist ein komisches Gefühl. Mal ganz ehrlich, ich bin mit Jorges Mutter nie wirklich warm geworden. Ich kann mich noch gut an unser erstes gemeinsames Weihnachten in Lissabon erinnern. Das ist jetzt dreißig Jahre her. Das waren ja irgendwie ganz andere Zeiten. Da war Portugal noch nicht mal in der EU. Da flog man nicht mal einfach so von Hamburg nach Lissabon. Jorge und ich sind mit dem Continentbus gefahren. Das haben wir allerdings auch nur einmal gemacht. Später
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