02 Winter am Ende der Welt
April.
Nein, noch nie, habe ich geantwortet.
Ist gar nicht mehr so ein Akt heute, sagte Jeff. Früher, ja früher, da fuhr man Kolonne. Da war The Road noch wirklich ein Abenteuer. Dagegen ist es ja heute ein Kinderspiel. The Road ist sogar geteert an manchen Stellen. Und breit geworden. Und es sind weniger Kurven. Und die Löcher sind auch weg. Na ja, nicht weg, aber kein Vergleich zu früher. Ich habe die anderen gefragt: Und was ist das Schlimmste an The Road?
Und ich dachte, sie sagen jetzt, die fünfundsechzig Kilometer, die sich ja ganz schön in die Länge ziehen können, oder der Schotter oder die Abhänge gleich neben der Straße. Aber nein.
Die Unvorhersehbarkeit, sagte Jeff, das macht The Road aus. Das ist es, was The Road immer noch so aufregend macht. Fünf oder zehn Tage oder wie lange auch immer ist es gut. Und dann plötzlich über Nacht gibt es Regen und Schnee und Eis und The Road ist glatt und du kommst nicht mehr über den Pass. Und alle stimmen zu.
Und plötzlich war es Mitternacht und wir haben, wie es sich gehört, mit Sekt angestoßen.
Wir haben uns auf der Veranda vor der Farm aufgestellt und uns vorgestellt, wie das damals wohl so war, da draußen so einsam und weitab vom Schuss zu wohnen und einen langen Winter durchzustehen. Jeden Tag Holz zu hacken und den Ofen zu heizen. Morgens Haferbrei zu essen und abends eine Suppe zu kochen aus den mageren Zutaten, die man noch hatte und je länger der Winter, desto magerer die Zutaten. Nicht weg zu können. Nirgendwohin. Über Monate. Aufeinander angewiesen zu sein. Aber so richtig. Die Frauen haben gestickt und aus alter Kleidung große Quilts für die Betten genäht. Die Männer haben Messer geschliffen, Wagenräder gebaut und Werkzeug repariert. Die Romantikerin in mir stellt sich das sehr schön und gemütlich vor. Die Romanistin in mir wäre hier mal wieder völlig nutzlos gewesen.
Dann hat April mir Peppermint in den Arm gedrückt, Peppermint immer noch mit Weihnachtsmütze, schon weil es draußen so kalt war, und hat mit Jeffs Kamera ein Foto von uns gemacht, und Carl hat gesagt, es ist eine Schande, dass ich bisher so wenig von Vancouver Island gesehen habe, und hat mich eingeladen, mit ihm nach Courtney zu fahren, denn Courtney ist seine Lieblingsstadt. Und Comox ist auch nicht schlecht. Und sie haben da eine gute Buchhandlung, the Blue Heron , wunderschöne Bücher, tolles Sortiment. Der Mann kann nicht nur kochen, er liest auch noch. Und ich habe versucht nicht dran zu denken, aber ich konnte nicht umhin, der Gedanke, da mit Carl über The Road zu fahren und eine Reifenpanne zu haben und dann mit Carl eine Nacht da alleine in der Wildnis ... Tja. Der hatte was.
Und April hat gesagt, wenn ich nicht weiß, wie ich die Tage füllen soll, dann soll ich doch zum Quilting-Marathon kommen, am nächsten Wochenende in der Schule, eine Art Sew-In, sie sind sieben Frauen und jede bringt was zum Essen mit, so was wie ein Potluck in Sequenzen, und sie verlassen das Gebäude praktisch nur zum Schlafen.
Jeff hat das Foto natürlich sofort am nächsten Tag auf Facebook gestellt und uns alle markiert: Jeffrey Thompson, Jasmin Monteiro und Carl Claaßen auf Johns Farm.
Und nun sitze ich hier über den Kommentaren. Clara und Alan wünschen mir ein gutes Jahr aus LA, Nicole und Tiago aus Lissabon und Anna und Miguel aus Porto. Soweit so gut.
Paul schreibt: Ins letzte Jahrhundert ausgewandert?
Die Prinzessin schreibt: krasse Klamotten
Jorges Mutter schreibt: Z u den Zeiten, als man diese Kleidung trug, verließen Frauen nicht so einfach ihre Ehemänner.
Und Jorge schreibt: Jasmin, ich möchte, dass du weißt, das du hier immer noch ein vernünftiges Zuhause hast.
Ich schließe Facebook und hoffe inständig, dass das neue Jahr besser wird. Aber vielleicht, und damit es in eine Richtung läuft, in die ich es auch laufen haben will, vielleicht sollte ich da doch lieber ein paar Vorsätze fassen und so zumindest die Richtung festlegen. Auch wenn das mit den Vorsätzen so eine Sache ist. Aber vielleicht kann ich so meinem Leben wenigstens eine grobe Richtung geben.
Vorsatz eins, denn das steht wirklich ganz oben: einen Beruf finden. Eine Tätigkeit, die mich ernährt. Etwas, was mir zumindest einigermaßen Spaß macht (wenn es denn irgend geht) und außerdem meinen Kühlschrank füllt und meine Miete zahlt (das ist das Muss). Und möglichst auch noch die Kinokarten und die Trips in den Buchladen und die Bicas in den Cafés (eben diese kleinen
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