02 Winter am Ende der Welt
Das sind nur fünfundsechzig Kilometer. Nur im Sinne von im Vergleich zu hundertfünfundfünfzig bis in die große Stadt. Das gibt mir die Gelegenheit, endlich mal selber über The Road zu fahren, was ich ja bisher noch nie getan habe. Vielleicht wird es mal Zeit. Vielleicht ist die ganze Sache dafür gut. Ich nehme Annas Van und fahre nach Gold River und hoffe, dass es da auch das gibt, was ich brauche.
Es ist eine erstaunlich schöne Fahrt.
The Road ist frisch geschoben vom Grader, der hier Tag und Nacht die Straße in Schuss hält. Rechts und links ist Postkarten-Landschaft vom Feinsten. Links die hohen Berge. Rechts der Perry Lake und der Malaspina Lake. Links die Three Sisters Wasserfälle, die allerdings oft nur zwei Sisters sind, weil die dritte Schwester zeitweise einfach verschwindet und niemand weiß, wohin.
The Road windet sich durch die Wildnis und ich bin alleine. Ungefähr in der Mitte sehe ich einen großen Hirsch. Er sieht eine Weile auf das Auto und verschwindet dann langsam im Wald. Ich mache mir klar: Das ist hier wirklich die Wildnis. The Road ist nur ein schmales Band, das zwei Kleckse Zivilisation miteinander verbindet. Hier gibt es ganz viel Leben in den Bergen. Bären, Bergpumas, Hirsche ...
Ich bin froh, dass ich in Annas dunkelblauem Van sitze, er fühlt sich wie eine Schutzhülle an, eine Kapsel Zivilisation, die mich durch die Wildnis transportiert auf einer Umlaufbahn in Form von The Road. Die Farben sind wirklich toll. Grün in vielen Schattierungen. Das Grün der Tannen, der Farne, der Flechten. Von dunklem Moosgrün zu hellem Gelbgrün. Dazu das Strohgelb der Gräser und das Rostrot der Sträucher, nichts ist grell, alle Farben sind sanft, gedämpft, unaufdringlich. Dazu der weiße Schnee oben auf den Gipfeln. Postkarte pur.
Ich steige allerdings nicht aus und ich mache keine Fotos, denn da reiht sich Fotomotiv an Fotomotiv und wenn ich da erst anfange zu fotografieren, dann würde ich nie in Gold River ankommen und dann als Folge erst sonstwann zurückkommen, was natürlich nicht geht, weil ich ja zum Abendessen bei Carl sein will. Ein Abendessen, auf das ich mich wirklich freue. Der erste Abend seit langem, auf den ich mich so richtig freue. Einfach nur freue. Und das nicht nur, weil es mit Sicherheit ein super Essen wird, weil Carl ein guter Koch ist. Ein guter Koch und ein guter Gastgeber.
Gold River selber ist klein, aber nett. Ein paar Cafés an einem zentralen Platz. Ein Supermarkt für Lebensmittel und Sachen wie Klopapier und Reinigungsmittel und dergleichen, und ein Shop, der eine Mischung aus Souvenirshop, Buchladen und Bastelgeschäft ist. Der Shop hat sogar Stoff zum Quilten. Sehr schönen Stoff. Super Auswahl. Ich kann nicht widerstehen und kaufe mir Stoff für einen neuen Quilt, einen Quilt für das Doppelbett unten im Basement, in den Farben Rostrot, Strohgelb und Moosgrün, für einen Quilt in den Farben von The Road. Schließlich habe ich Quilten gelernt und will es nicht gleich wieder verlernen und Spaß macht es ja auch und mein erster Quilt ist schließlich super geworden, da wird dieser es womöglich auch.
Außerdem kaufe ich ein ovales Glasbild, eine bunte Blume, sieht sehr schön aus, die kann ich mir an das Fenster hängen, wo der Schreibtisch steht. Ich blättere ein paar Bücher durch und kaufe auch noch ein Buch über Art Quilts und ein Buch mit einem Bericht von einem Weißen, der von den Indianern hier in der Gegend als Sklave gehalten wurde. Was es aber auch alles gibt. (Oder gab – denn das ist ja schon sehr lange her, glücklicherweise).
Endlich finde ich auch einen Drogeriemarkt und da bekomme ich dann auch, was ich eigentlich suche, und weswegen ich ja den weiten Weg hierher gefahren bin. Ich trinke einen großen Milchkaffee im Downtown Café, ich tanke den Van wieder voll, ich kaufe mir an der Tankstelle eine Zeitschrift, die zwar schon ein halbes Jahr alt ist, aber deren Tipps trotzdem interessant klingen, und dann geht es wieder zurück ans Ende der Welt, wo Carl auf mich wartet. Wo Carl mit einem Abendessen und wer weiß was noch auf mich wartet ...
In der Tat werde ich sogar schon zu Hause erwartet.
Allerdings nicht von Carl. Sondern von Dona Maria Teresa Candeias Monteiro aka meine Schwiegermutter. Mit ihrer jungen Reisebegleiterin Joana. Sie sitzen in der Garage auf ihren Koffern und sind in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
Da fragt man sich doch wirklich. Also echt.
Wie ist das möglich, ich wohne hier am Ende der
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