02 Winter am Ende der Welt
Welt, das ist hier wirklich weit weg. Richtig abgelegen. Wie oft habe ich in Lissabon in meiner Wohnung gesessen und mir Besuch gewünscht, am Fenster gestanden und nach draußen gesehen und mir Gesellschaft gewünscht und niemand kam vorbei. Und jetzt das hier. Der völlig unerwünschte Besuch zum völlig unpassenden Zeitpunkt.
Mein Abend-Date mit Carl kann ich jetzt natürlich knicken. Jetzt habe ich die Präser, aber jetzt kann ich hier nicht mehr weg, irgendwie, weil ja dieser Besuch da ist. Denn wie soll ich das meiner Schwiegermutter erklären. Ich könnte lügen, aber es würde sich blöde anfühlen. Die Anwesenheit der Schwiegermutter macht alles kompliziert. Sowas aber auch. Warum ist das Schicksal manchmal so gemein zu mir? Warum? Warum, warum, warum ... Ich verstehe das nicht. Ich bemühe mich doch, finde ich, immer nett und korrekt zu sein, mich wohl zu verhalten und alles richtig zu machen.
Und wenn schon Besuch, warum dann nicht einen Besuch, den ich mir aussuche, den ich gerne im Haus habe. Von dem ich was habe. Mit dem ich gerne zusammen bin. Warum ausgerechnet die Schwiegermutter? Meine Schwiegermutter, die normalerweise nicht mal für einen spontanen Besuch im Café Nicola zu haben ist. Meine Schwiegermutter, die selbst in ihrem Alter noch einen Terminkalender hat und sich auch daran hält (Ordnung ist das halbe Leben, wie sie zu sagen pflegt). Diese Schwiegermutter sitzt unangekündigt hier am Ende der Welt vor der Tür. In meiner Garage. Auf ihrem Koffer.
Und dazu auch noch die uneheliche Tochter meines Mannes. Ein Mädchen, von dem ich doch im Grunde möchte, dass sie nicht existiert, jetzt mal ganz ehrlich. (Ist nicht persönlich gemeint, Joana.)
Aber wen würde ich als Besuch wollen? Auch schwer zu sagen, im Moment, in der Tat. Normalerweise freue ich mich ja immer über Anna und Clara, aber mit denen rede ich im Moment nicht.
„Na, wie sieht´s aus, dürfen wir eintreten?“, sagt meine Schwiegermutter und ich schließe auf und schlagartig wird mir klar, was mir vorher gar nicht so richtig aufgefallen ist.
Das Haus ist total unaufgeräumt. Schon weil ich ja heute den ganzen Tag unterwegs war. Und gestern auch. Und vorgestern auch. Und die Tage davor, na ja, da hatte ich nicht so recht die Lust und letzten Endes kam es ja auch nicht drauf an, und wen stört schon so ein bisschen Unordnung in Form von Geschirr in der Spüle, in der Wohnung verteilten Kleidern, aufgeschlagenen Büchern auf dem Teppich und einem ungemachten Bett? Aber es gibt einen Menschen, der mich dafür jahrelang kritisiert hat. Und genau dieser Mensch steht jetzt hier bei mir in der Wohnung und sieht sich kritisch um.
Anna witzelt ja manchmal, dass sie an kosmische Buchführung glaubt. Kosmische Buchführung bedeutet, dass man das, was man an einer Stelle gibt, an einer anderen zurückkommt. Als besonders gelungenes Beispiel erzählt sie immer die Geschichte von dem Fernseher, der hier im Basement steht und von dem ich im Moment auch profitiere, weil ich hier die schönen alten Filme von Es geschah in einer Nacht über Overboard bis Hellboy zwei sehe. Anna hat diesen Fernseher hier auf Vancouver Island nämlich per kosmischer Buchführung als Austausch für ihren Fernseher zu Hause in Monsanto in Portugal bekommen.
Also die Geschichte geht so, damit man´s auch versteht. So hat sie sie Clara und mir erzählt.
Eines Tages ging der Fernseher von Annas Nachbarin kaputt, Dona Ermelinda heißt sie, glaube ich, ja genau, so heißt sie. Und Anna hatte noch einen Fernseher im Keller, den sie nicht brauchte, weil Jan sich einen neuen Fernseher gekauft hatte. Und so hat sie den alten Fernseher Dona Ermelinda gegeben. Und noch am gleichen Tag haben ihr Steve und Chris hier im Ort – also in achttausend Kilometer Entfernung – diesen Fernseher hier ins Basement vom blauen Flusshaus gestellt, weil sie ihn nicht mehr brauchten. Das ist sowas wie Teleport ohne Teleport. Kosmische Buchführung vom Feinsten. Normalerweise geht es bei dieser kosmischen Buchführung natürlich meist um kleinere Dinge. Einen Kaffee, den man an einem Tag in einem Café einem Freund ausgibt und an einem anderen Tag in gleichen Café oder sogar in einem anderen Café von einem anderen Freund ausgegeben bekommt.
Anna erzählt diese kleinen Begebnisse immer mit einem kleinen feinen Lächeln und wir werden wohl nie herausbekommen, ob sie nun wirklich dran glaubt oder nicht. Jeff ist übrigens jemand, der sich der kosmischen Buchführung entzieht. Er
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