0203 - Um Mitternacht am Galgenberg
gehört. Ihr wollt mich einfach totmachen, nicht?«
»Nein.«
»Aber warum sagen die anderen so etwas?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Können wir nicht fliehen?« Auf diese Frage war es Colette angekommen, deshalb hatte sie erst um den heißen Brei herumgeredet. Nun aber war es heraus.
Marcels Kopf ruckte hoch. »Bist du eigentlich verrückt, Mädchen? Weißt du überhaupt, was du da gesagt hast?«
»Ja, ich will weg. Du kannst mitkommen, denn du kennst dich in den Bergen aus.«
»Das schlag dir mal aus dem Kopf. Und wenn ich weiterhin dein Freund sein soll, dann stelle diese Fragen nie wieder.« Heftig stand der Bandit auf und nahm auch das Tablett hoch.
»War auch nur 'ne Frage«, schwächte die junge Gefangene ab.
»Vergiss sie.«
»Aber nach draußen darf ich doch?« Bittend schaute das Mädchen seinen Bewacher an.
Marcels Widerstand schmolz wie Butter in der Sonne. Er hatte ein weiches Herz, zu weich für den Job, und wenn Colette stärker gebohrt hätte, wäre er vielleicht sogar mit ihr geflohen.
»Das geht nicht.«
»Es ist keiner da, Marcel. Außerdem hören wir es, wenn die anderen zurückkommen.«
Der Bandit wiegte den Kopf. »Also wenn du unbedingt willst… aber nichts den anderen sagen.«
»Nein, Marcel, nein.« Die Kleine sprang an dem großen Mann hoch und küsste ihn.
Marcel musste wieder an seine Tochter denken. Sie wäre auch elf Jahre gewesen und hatte ihn noch kurz vor ihrem Tod so umarmt wie Colette jetzt. Er schluckte.
»Ist ja schon gut, Kind, wir werden einen kleinen Spaziergang machen. Frische Luft tut dir gut. Lange wirst du bestimmt nicht mehr bei uns bleiben.«
»Das hast du so oft gesagt.«
»Aber heute stimmt es. Ich habe da so ein Jucken am großen Zeh. Ein gutes Zeichen.«
»Hat mein Großvater auch immer gesagt!« lachte das Mädchen, nahm die Hand des Mannes und zog ihn aus der kleinen, direkt an eine Bergwand gebauten Holzhütte.
Es war noch nicht völlig finster. Das Versteck befand sich in einem engen, ziemlich hoch gelegenen Tal. Wenn der Wind durchfuhr, brachte er Kälte mit. Colette zog die Strickjacke an, die ihr viel zu groß war. An den Hängen klebten Schneereste. Im Dämmer wirkten sie weißer, als sie in Wirklichkeit waren.
Nach den mit Geröll übersäten und spärlich mit Gras bewachsenen Hängen stießen rauhe Felswände in die Höhe. Sie waren kantig, mit Überhängen bedeckt und Vorsprüngen bestückt. Es war schwer, diese Hänge hochzuklettern. Sie lagen jetzt im Schatten und waren mehr zu ahnen als zu sehen.
Colette blieb neben ihrem Bewacher vor der Hütte stehen und schaute sich um.
»Wo willst du hin?« fragte Marcel.
»Nur gehen.« Sie streckte ihren Arm aus. Die Verlängerung des kleinen Zeigefingers bildete der schmale Weg, der das Tal durchschnitt. Er endete in entgegengesetzter Richtung an den Hütten. Es gab drei insgesamt. Zwei dienten den Banditen als Unterschlupf. Die beiden waren aus Steinen errichtet worden, wobei die Fenster mehr aussahen wie Schießscharten.
Reifenspuren auf dem Untergrund vor den Hütten zeugten davon, dass die Banditen auch Fahrzeuge besaßen. Im Augenblick war kein Wagen zu sehen.
»Wo sind die anderen denn?« fragte Colette. »Geht es da um mich?«
»Möglich.«
»Aber mein Vater kann das Geld nicht aufbringen«, sagte Colette mit weinerlicher Stimme.
Marcel wollte der Kleinen Mut machen. »Da ist wohl ein Mann gekommen, der mit Jaques verhandeln will.«
»Wie heißt er denn?«
»Ty, habe ich gehört.«
Colette lachte. »Onkel Ty. Das ist gut. Der ist toll, du. Er ist auch Reporter, kennt die ganze Welt. Er war sogar in Asien und in Afrika, und er bringt mir immer etwas mit, wenn er von seinen Reisen kommt.«
»Dann wird er es schaffen.«
»Glaube ich auch.« Colette war plötzlich aufgeregt. »Komm, lass uns noch ein Stück gehen!«
»Und wohin?«
»Wo ist denn der Galgenberg?«
Die beiden waren ein paar Schritte gelaufen, jetzt blieben sie stehen. Das lag vor allen Dingen an Marcel, der auf den Kopf der kleinen Colette schaute. »Was weißt du über den Galgenberg?«
»Ich habe gehört, wie deine Freunde darüber sprachen.«
»Vergiss ihn!«
»Kann man ihn von hier sehen?«
»Fast.«
»Dann zeig ihn mir doch.«
»Nein, das geht nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil… also weil es dort spukt. Ehrlich.« Marcel wand sich wie ein Wurm.
»Es gibt doch keine Geister.«
»Das sagst du so.«
»Hast du denn welche gesehen, Marcel?«
»Nein, und da bin ich auch froh.«
»Woher weißt
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