0203 - Um Mitternacht am Galgenberg
bleiben.
Marcel, ihr Bewacher, war ein gutmütiger Typ. Und er mochte Kinder leiden. Er hatte selbst zwei gehabt. Sie waren gestorben. Eine tückische Krankheit hatte sie dahingerafft.
Die beiden unterschiedlichen Menschen freundeten sich sogar an. Colette kam aus Frankreich, ihr Vater war Reporter bei einer großen Tageszeitung. Über Korsika und die Probleme des Landes wusste sie mit ihren elf Jahren nichts.
Wieder einmal brachte Marcel das Essen. Der Rhythmus hatte sich allerdings verändert. Sie bekam jetzt dreimal am Tag etwas. Morgens, mittags und auch am Abend.
»Na, wie geht es dir, kleine Mademoiselle?« fragte Marcel und stellte das Holztablett ab, bevor er sich neben Colette zu Boden fallen ließ.
»Nicht gut.«
»Und warum nicht?«
»Ach, weißt du, ich will mal raus.« Colette warf ihre blonden Haare nach hinten und schaute auf die schmutzigen Finger.
»Bald ist es soweit, das verspreche ich dir.«
Das Mädchen schaute seinen Bewacher an. Sie sah einen Mann vor sich, dessen Haar zu einer wilden, natürlichen Lockenpracht gewachsen war. Dazwischen jedoch, genau auf dem Kopf, glänzte eine kleine freie Fläche. Dort verlor Marcel die Haare. Zuerst hatte Colette sich vor ihm gefürchtet, weil über seine Stirn eine dunkel rote Narbe lief, die ein Messerstich hinterlassen hatte. Diese Narbe entstellte das Gesicht des Banditen, sie änderte allerdings nichts an seinem Verhältnis und der Einstellung Kindern gegenüber.
»Was gibt es denn?« wechselte Colette das Thema.
»Ohhh, gute Sachen.«
»Das sagst du nur.«
»Habe ich auch gegessen.«
»Ehrlich?« Colette schaute ihren Bewacher an und sah das Messer und die Pistole in seinem Gürtel.
»Ja.«
»Und wie hat es geschmeckt?«
»Der Ziegenkäse besonders gut. Das Brot auch, und das Wasser ist frisch.«
»Dann werde ich es probieren. Gibt es denn eine Quelle in der Nähe, Marcel?«
»Klar.«
»Kann ich sie sehen?«
Der Bandit wand sich. »Wenn es nach mir ginge, sofort, aber da sind noch die anderen und auch mein Chef. Die würden mich ausstoßen, wenn ich dich rausließe.«
»Aber es wird doch dunkel. Und außerdem sind die anderen weggegangen.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe durch einen Spalt in der Wand geschaut. Zwei sind zurückgeblieben, du und Pal. Der ist auch weggegangen, obwohl er es nicht durfte, das alles habe ich gehört.«
»Du hast ja Ohren wie ein Luchs.«
»Ich passe eben nur auf.« Colette nahm von dem Käse und brach das weiße Brot. Es war nicht mehr frisch, sondern ziemlich zäh, aber das Mädchen hatte Hunger und aß.
Marcel schaute ihr zu. Er lächelte, und er kam sich wie ein Schwein vor, dass er hier auf die Kleine Acht geben musste. Er hatte nichts gegen das Banditentum einzuwenden, doch dass sie Kinder entführten, widerte ihn an. Seiner Ansicht nach gab es andere Methoden, um an das große Geld zu kommen. Man musste eben die Großgrundbesitzer schröpfen, wie Robin Hood es vor einigen Hundert Jahren getan hatte.
Das Mädchen aß mit gesundem Appetit. Während sie kaute, schaute sie Marcel mit ihren blauen Augen an. »Wo ist eigentlich deine Frau?« fragte sie plötzlich.
»Wie kommst du denn darauf?«
Colette hob die Schultern. »Nur so.«
»Sie ist in einem Dorf zurückgeblieben.«
»Bei deinen Kindern?«
»Ja, dort, wo sie begraben sind.«
»Es muss schlimm sein, wenn die Kinder tot sind. Meine Eltern würden auch weinen.«
Die Worte trafen den Banditen. Er senkte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Bisher hatten sie noch kein Kind umgebracht, und er würde dies auch nicht können und sogar versuchen, es zu verhindern.
»Du sagst ja nichts, Marcel.«
»Ich denke nur nach.«
»Worüber denn?« Zwischen Colettes Zähnen verschwand das letzte Stück Weißbrot.
»Über gar nichts, an sich.«
Das Mädchen wischte seine Hände an dem schon schmutzigen Kleid ab. »Das glaube ich dir nicht, Marcel.«
»Wieso? Du kannst mich doch nicht einfach als einen Lügner bezeichnen.«
»Ich bin mir da nicht sicher.« Colette nahm im Schneidersitz Platz und wiegte den Kopf. »Marcel - ich… ich hätte da mal eine bestimmte Frage.«
»Bitte.«
»Magst du mich eigentlich?« Als sie den überraschten Blick des Mannes sah, formulierte sie konkreter. »Ich meine, sind wir so etwas wie Freunde geworden?«
»Das kann man sagen.«
»Was würdest du denn tun, wenn deine Freunde mich… na ja, du weißt schon. Falls mein Vater nicht zahlen kann.«
»Hör auf.«
»Doch, Marcel. Ich habe Gespräche
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