0205 - Die goldene Kralle
ihm nichts anderes übrigblieb, als zu springen.
Wie ein Stein fiel er in die Tiefe.
Es klatschte, als er auf dem Grund aufschlug. Durch sein menschliches Bein zog ein stechender Schmerz, um den er sich allerdings nicht kümmerte. Das Gefühl verschwand auch bald wieder. Die Bestie konnte sich normal bewegen.
Eine andere Welt hielt ihn umfangen.
Düster, unheimlich. Zudem stank es erbärmlich. Der Geruch wehte aus dem Hauptstollen, der, nicht weit von ihm entfernt, die unterirdische Welt durchschnitt. Auch hörte er das Schmatzen und Rauschen des Wassers, das mit hoher Geschwindigkeit durch den Kanal schäumte. Er selbst mußte ein paar Schritte laufen, um den Kanal zu erreichen.
Geduckt bewegte er sich voran. Wo der breitere Kanal herführte, schimmerte auch Licht. Es stammte von einer Deckenleuchte. Der gelbe Schein zauberte Reflexe auf die Oberfläche, die im direkten Kontrast zu dem schwarzgrauen Wasser standen.
An der Einmündung blieb er stehen. Der Wertiger wußte sehr wohl, daß er sich kaum unter die Menschen wagen konnte, wenigstens nicht bei Tageslicht, also mußte er in den Abwässerkanälen die Dunkelheit abwarten. Auch diese unterirdischen Straßen waren nicht nur menschenleer. Oft genug erschienen Arbeiter, um Stollen oder Schiebegitter auszubessern. Diesen Leuten wollte er nicht in die Arme laufen, obwohl er danach gierte, weitere Menschen umzubringen. Der unselige Fluch wurde stärker und stärker.
Wenn der Lichtschein über die Wände fiel, dann schimmerten sie heller. Die auf den Mauern sitzende Feuchtigkeit reflektierte das Licht. Das rauhe Gestein war uneben. Es gab Vorsprünge und auch Löcher. Der Wertiger passierte eine Eisentür, die nur hüfthoch war.
Er probierte die Klinke, die Tür war zu.
Ratten hatte er nicht gesehen. Wahrscheinlich spürten die Tiere, daß ein Feind sich in ihrem Bereich aufhielt, und die zogen sich zurück. Zu beiden Seiten des unterirdischen Kanals befanden sich schmale Stege, über die auch Menschen gehen konnten, denn soviel Platz blieb immer.
Der Wertiger hatte den linken genommen, er hoffte, daß diese Richtung zum Ziel führte und er sich nicht getäuscht hatte.
Denn ein Ziel besaß er. Er hatte sich vorgenommen, die Familie König und alles, was damit zusammenhing auszurotten. Sie sollten sich wundern. Wie ein Geist würde er erscheinen und zuschlagen.
Als er daran dachte, drang ein gefährliches Knurren aus seinem halb geöffneten Maul.
Er ging weiter.
Manchmal spiegelte sich das harte Licht der Deckenleuchten in seinen Augen. Das Grauen war unterwegs, stoppen konnte ihn nichts mehr.
Er würde es ihnen beweisen – allen…
Eine unterirdische Kreuzung. Als er sie erreichte, blieb er für einen Moment stehen und schaute sich um.
Plötzlich weiteten sich seine Augen. Die beiden Gesichtshälften verzogen sich zu einem Grinsen. Er hatte genau gefunden, was er die Zeit über suchte.
Ein Hinweisschild.
Es war an der Wand angebracht und diente auch den Arbeitern zur Orientierung, damit die Männer wußten, wo sie sich befanden.
Er las.
Stresemannstraße – Max-Brauer-Allee.
An dieser Kreuzung mußte er sich befinden. Das hieß, beide Straßen führten hoch über ihm her. Wenn er jetzt nach Süden ging und der Stresemannstraße folgte, die später Budapester Straße hieß, gelangte er genau zum Millerntor.
Und dort lag St. Pauli!
Der Wertiger duckte sich zusammen, als er daran dachte. Aus seinem Maul drang ein knurrendes Geräusch. Nichts konnte ihn jetzt von seinem Weg abhalten. Er malte sich bereits den Schrecken aus, den er verbreiten würde.
St. Pauli sollte zittern, St. Pauli würde zittern. Und besonders eine hatte nur noch Stunden zu leben.
Angela!
***
Wir befanden uns wieder im Polizeihochhaus am Berliner Tordamm. Dort hatte auch Kommissar Kölzer sein Büro. Über Hamburg lag ein trüber Himmel, graues Tageslicht drang durch die beiden Fenster. Im Westen verschwamm der alte Bau des Hauptbahnhofs Nord im Dunst.
Kommissar Kölzer hockte hinter seinem Schreibtisch, hatte die Stirn in Falten gelegt und machte einen deprimierten Eindruck. Die Fahndung war ein Schlag ins Wasser gewesen, hatte viel Geld gekostet und nichts gebracht. Der Wertiger war schneller gewesen.
»Wollen Sie Kaffee?« fragte uns der Kommissar.
Will Mallmann und ich nahmen dankend an, während Suko den Kopf schüttelte.
Kölzer telefonierte, und eine Vorzimmerdame brachte die Tassen mit dem dampfenden Getränk. Ich zündete mir eine Zigarette an und blies den
Weitere Kostenlose Bücher