0209 - Die Gruft mit dem Höllenauge
brüllte Gordon Miller. »Horace, verdammt, komm zurück! Ich bitte dich!«
Miller war völlig aufgelöst. Noch konnte er dicht an den Rand der Gruft treten. Er schaute hinunter, sah den offenen Sarg, aber er konnte nicht genau erkennen, was und wer in ihm lag.
Sinclair stand vor dem Sarg. Er wirkte wie in Trance, bis Millers Stimme dumpf und hallend die unheimliche Gruft erfüllte. »Horace, die Platte!«
Da hob der ehemalige Anwalt den Kopf.
»Du mußt raus, Horace!« schrie Miller. »Die Steinplatte wird sich auf das Grab legen!«
Sie schwebte noch immer über dem Boden, hatte allerdings an Höhe gewonnen, und ihr Ziel war nach wie vor das Grab.
»Schnell, schnell!« Miller bückte sich und streckte dabei seinen rechten Arm vor. Er wollte seinem Freund aus der Gruft helfen, und jetzt endlich reagierte auch dieser. Sinclair hatte gemerkt, daß es um Leben und Tod ging.
Es war zu spät.
Die beiden Hände hatten sich kaum berührt, als die Platte bereits den offenen Schacht erreicht hatte, darüber schwebte, sich noch einmal drehte, damit sie genau paßte und nach unten gedrückt wurde.
Millers Gesicht verzerrte sich.
Er hörte auch das Lachen des gefangenen Piloten und wußte mit brutaler Deutlichkeit, daß er es nicht mehr schaffen würde. Horace kam aus der Gruft nicht mehr weg, die schwere Platte war einfach zu schnell.
Schon fiel ihr Schatten über Miller. Der Fabrikant hörte Sinclair reden, schrie selbst und merkte am Druck der Hand, daß Horace versuchte, aus der Gruft zu kommen. Er mußte einsehen, daß es zu spät war.
Er ließ los.
Wuchtig warf er sich zurück. Das war sein Glück, denn die Platte hätte ihn sonst noch getroffen und zerdrückt.
So aber senkte sie sich genau über die Graböffnung, und das letzte, was Miller vernahm, waren die verzweifelten Rufe des eingeschlossenen Mannes. Dann schloß die Platte fugendicht…
***
Ich holte tief Luft und blieb stehen. Den Weg zum Friedhof hatten wir gefunden. Deshalb stoppte ich allerdings nicht, denn ich hatte noch etwas anderes vernommen.
Schreie!
Rufe und ein Wimmern. Beides zeigte uns an, daß wir nicht mehr weit vom Ort des Geschehens entfernt waren.
Was passierte dort?
»Komm weiter, John!« Suko trieb mich an. Auch er hatte die gleichen Geräusche vernommen. Da wir uns schon auf dem Friedhof befanden, nahmen wir den anderen Weg.
Das heißt, wir liefen querbeet.
Der Boden war sehr weich. Wenn wir die Füße hoben, wirkte der Schlamm wie zäher Leim, der unsere Schuhe nicht loslassen wollte.
Knöcheltief wühlten wir den Untergrund auf, schon bald zeigten unsere Hosen einen Dreckrand.
Wir erreichten ein altes Gräberfeld. Hohe Grabsteine standen hier.
Einfache, graue Klötze oder Platten, auf denen die Moosschicht grünlich schillerte. Andere waren wesentlich kunstvoller. Sie zeigten Figuren und Szenen aus der christlichen Lehre.
Oft zeigten sich die Büsche von ihrer sperrigen Seite. Mit beiden Armen mußten wir sie zur Seite drücken, um unseren Weg fortsetzen zu können.
Dann endlich hatten wir es geschafft. Beide blieben wir stehen, wobei ich in einer Schlammpfütze fast noch ausgerutscht wäre. Wir sahen das Schreckliche und konnten es kaum fassen, was bei uns schon etwas heißen sollte, denn wir hatten in unserer Laufbahn wirklich viel gesehen.
Aber dies hier war so schaurig und grausam, so unbegreiflich, daß ich ein »Mein Gott« ausstieß.
In einem hohen Grabstein steckte ein Mensch. Beide Arme waren bis zu den Ellenbogen darin verschwunden, und auch das rechte Knie hatte sich förmlich in den Stein hineingegraben. Für den armen Kerl war es unmöglich, sich zu befreien.
Wir hörten sein leises Wimmern und Schluchzen. Manchmal von Worten unterbrochen, die wir nicht verstanden. Sein Gesicht war tränennaß. Er mußte Schreckliches durchgemacht haben.
Das also war der Pilot.
Aber er war nicht allein. Vor ihm, wo eine Platte aus schwerem Stein das Grab verschloß, hockte ein älterer Mann. Er kniete und schlug mit beiden Fäusten auf die Platte. Er wandte uns den Rücken zu und schien uns nicht bemerkt zu haben.
Wir aber mußten uns um den Piloten kümmern.
»Was willst du machen?« fragte Suko, der ziemlich ratlos wirkte und auch blaß im Gesicht war.
»Ich muß ihn befreien.«
»Und wie?«
Mein lauernder Blick traf den Chinesen. »Vielleicht gibt es eine Chance, wenn ich das Kreuz nehme.«
»Versuch es, John!« knirschte er. »Verdammt, versuch es und befreie den armen Teufel!«
Das hatte ich auch vor.
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