0211 - Die Nacht in der Schreckensburg
Möglichkeit, sich aus der Affäre zu ziehen.
Er drehte sich nicht nach ihr um, starrte nur auf das unbeschreibliche Bild, das sich ihm in Lebensgröße bot.
»Uff!« wiederholte er.
Eine Fledermaus, die sich vor seinen Augen in eine atemberaubende Vertreterin des anderen Geschlechts verwandelte, hatte er noch nicht vor die Linse bekommen.
Einmal ist immer das erste Mal, dachte er in einem Anflug von Galgenhumor.
Sein Blick hing wie festgeklebt an der Stelle im Zimmer, wo die Luft eigenartig flimmerte, obwohl es doch alles andere als heiß war. Die Konturen einer schwarzhaarigen Frau schälten sich dort mehr und mehr aus dem Nichts heraus. Im gleichen Maß wie die Umrisse einer normalgroßen schwarzen Fledermaus verwischten!
Das gibt’s doch nicht, dachte Andrew. So ’ne kleine Maus und so ein Weibsbild…!
Wie war die denn mit dem engen Fell zurechtgekommen?
Erst jetzt merkte er, daß seine Hand, in der er die antiquierte Pistole seines Großvaters hielt, vor Aufregung zitterte. Das war ja nun nicht geplant gewesen, daß sein Scherz in Erfüllung ging. Arme Beth, dachte er. Aber das war auch schon der einzige Gedanke, den er an sie verschwendete. Alsdann schweiften seine Überlegungen sofort wieder zu dem Unglaublichen zurück.
In diesem Augenblick schien der beeindruckende Verwandlungsvorgang abgeschlossen zu sein. Die Luft hatte aufgehört zu flimmern, und vor ihm stand sie jetzt, nackt wie Gott (oder wer auch immer) sie geschaffen hatte.
Gilling fielen schlagartig wieder die Headlines ein, die ihn an diesem Morgen so stark beeindruckt hatten.
POLIZEI FAHNDET NACH NACKTER FLEDERMAUS…
»Hä-hände hoch!« befahl er und fuchtelte mit plötzlicher Entschlossenheit mit der geladenen Pistole in der Luft herum. Die würde vielleicht sogar noch funktionieren. Das Zündplättchen lag noch auf seinem richtigen Platz und der Hahn war auch gespannt. Gilling redete sich selber eine Menge Mut zu, weil ihm in diesem Augenblick sehr heiß und unangenehm einfiel, wie man die Leutchen eigentlich nannte, die sich der Fortbewegung in Art von Fledermäusen bedienten.
Vampire!
Gilling kriegte einen trockenen Hals, während sein fülliger Körper übergangslos zu transpirieren begann. Hinter sich hörte er jetzt auch wieder Geräusche, nachdem es eine Weile ungewohnt ruhig gewesen war. Beth erhob sich vom Boden.
Gilling wagte nicht, hinter sich zu blicken, weil er die Fremde nicht mal eine Sekunde aus den Augen verlieren wollte.
»Andrew!« hörte er Beth’ hysterisches Organ.
Die Fremde vor ihm sagte gar nichts. Aber gerade ihr Schweigen machte ihn nervös. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er leckte sich unsicher über die Lippen. Die Frau erwiderte seinen Blick fest und zwingend, daß er fürchtete, sie könnte ihn hypnotisieren. Solche Augen wie diese hatte er ohnehin noch nie gesehen. Die schienen ja von selbst zu leuchten. Wie die Augen einer Katze im Dunkeln.
Als würde eine Kerze in ihrem Kopf brennen, dachte er benommen.
»Was… was wollen Sie hier?« fragte er mit krächzender Stimme.
Die Vampirin antwortete immer noch nicht. Ihr Gesicht, von schwarzem, seidig glänzendem Haar schulterlang umrahmt, war wie auch ihr übriger Körper von makelloser Glätte. Ihre Haut schimmerte wie Elfenbein und weckte trotz der prekären Situation stürmische Gefühle in Andrew Gilling.
»Ich hole Hilfe, Andrew«, klang hinter ihm wieder die Stimme seiner Frau auf. »Ich alarmiere die Nachbarn. Laß sie nicht entkommen. Wir müssen Sie pfählen, diese häßliche Blutsaugerin!«
Ehe er etwas dazu sagen konnte, hörte er bereits eine Tür zuschlagen.
Verdammt, dachte er. Träume ich das alles?
Die Situation war vor seinen Augen aus einer stinknormalen Fledermaus hervorgegangen. Er hielt sie mit einer Waffe in Schach, von der niemand sagen konnte, ob sie sich nicht beim ersten Schußversuch in ihre Einzelheiten zerlegen würde.
Und seine Frau trommelte die Bewohner der umliegenden Häuser zusammen, um eine Vampirin zu pfählen…
»Verflucht!« knurrte Andrew und besah sich auf’s Neue den herausfordernden Körper der Fremden, die sich keinen Zentimeter von der Stelle rührte.
Hätte man nicht wenigstens mit dem Pfählen bis danach warten können…?
***
Das Burgtor stand offen, wie es schon immer gewesen war, soweit die Männer zurückdenken konnten. Der Zerfall des Gemäuers hatte nicht erst vorgestern begonnen.
Der Nebel war mit jedem Schritt, den sie den Berg erklommen hatten, dichter geworden und hing jetzt
Weitere Kostenlose Bücher